Kapitalismus
Highperforming zum Jahreswechsel
22.12.2022
Zum Jahreswechsel Bilanz zu ziehen, ist vielleicht ganz natürlich, quasi das Gegenstück zu den Vorsätzen für das kommende Jahr. Aber in unserer kapitalistischen Social-Media-Gesellschaft bleiben solche Bilanzen natürlich nicht privat, sondern werden stolz auf Twitter, Mastodon, LinkedIn und ähnlichen Netzwerken geteilt. Und natürlich sind es vor allem quantifizierte Bilanzen - für eine qualitative Reflexion ist auch sicher zu wenig Zeit, denn was ein wahrer Highperformer ist, der arbeitet auch zu Weihnachten. Was der Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" als eher ungesunde bloße Geschäftigkeit beschrieb, mit der wir unsere Leben füllen, lässt sich im Teilen quantifizierter Leistungsbilanzen am Jahresende gut beobachten.
Der Ökonom, Autor, YouTuber und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linkspartei im Bundestag Maurice Höfgen teilte etwa einen Tweet, in dem er all seine 2022 produzierten Medien auflistete.
Hier wird Leistung messbar. Nur die Bundestagsarbeit steht ganz bescheiden am Ende der Liste, ohne Zahl, wie ein Hobby, das eben noch dazu kam.
Den Tweet Höfgens fand ich nur, weil ich dem Soziologen Nils C. Kumkar auf Twitter folge, seit er dieses Jahr bei Suhrkamp das äußerst lesenswerte Buch "Alternative Fakten" rausgebracht hat, in dem er entsprechende Kommunikation analysiert. Kumkar teilte Höfgens Tweet in Reaktion auf einen anderen Tweet, der sich über ein TikTok-Video des Karriereberaters David Döbele lustig machte. In dem Video beantwortet Döbele die essenzielle Frage:
Sollte man als Highperformer Weihnachten feiern?
Glücklicherweise lautet die Antwort: Ja, man darf. Man darf "etwas ruhiger machen", denn "bei den Investmentbankenberatungen herrscht dann auch Urlaubsstimmung", und so dürfen auch Highperformer "etwas entspannen und sich für ein erfolgreiches 2023 vorbereiten".
Ich finde es wirklich gut, dass es solche Beratungsangebote für Highperformer gibt, denn gerade Döbeles Zielgruppe (BWL-Studierende, die ins Investmentbanking einsteigen wollen), haben vermutlich nicht genug Tagesfreizeit, um solche Fragen selbst zu beantworten. Da sie aber mindestens auf dem besten Wege sind, Highperformer zu werden, haben sie wenigstens genug Geld, um die vierstelligen Kosten von Döbeles Coachings zu bezahlen. Oder sind bereit, dafür Kredite aufzunehmen.1
Und als Minderleister?
Ich bin von solchen Problemen glücklicherweise verschont. Als Minderleister mit drei prekär bezahlten Tätigkeitsfeldern ist mir 2022 nur folgendes gelungen:
Nein, das kann sich wirklich nicht sehen lassen. Es stellt sich daher ernstlich die Frage: Darf ich als Minderleister Weihnachten feiern? Oder sollte ich die Zeit, in der ich in Job #1 Urlaub habe, nicht lieber sinnvoll nutzen und in Jobs #2 und #3 mal so richtig "powern! powern!! powern!!!", wie uns schon zu meinen Abi-Zeiten vor 23 Jahren eine Lehrerin eindringlich nahelegte?
Um mir diese Frage zu beantworten, gehe ich ins Badezimmer, ziehe mir mein altes H&M-Hemd an (sorry, David, für Ralph Lauren hat es nicht gereicht), kämme mir das Haar nach oben, lächle großmütig in den Spiegel und -
Ah, "so sorry", muss ans Telefon, die unterdrückte Nummer ist immer das Finanzamt, die warten noch auf … Also frohes Fest, frohes Neues, bis zum nächsten Jahr.
Externe Links
1 Artikel bei welt.de über die fragwürdigen Geschäftspraktiken von David Döbeles Beratungsagentur. [Achtung: Laut Datenschutzerklärung verarbeitet der Anbieter der verlinkten Seite Daten auch in den USA. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel
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