Phänomenologie
Auseinandersetzung mit der Lebenswelt: Interview mit Justin Nolte über Neue Phänomenologie und Digitale Spiele
07.07.2025
Seit Edmund Husserl will die Phänomenologie "zu den Sachen selbst". Das geht mitunter einher mit Technik-Skeptizismus: Insbesondere digitale Medien scheinen sich zwischen die Menschen und ihre direkte Erfahrung zu drängen und werden eher als störend empfunden. Dass aber Computer- und Videospiele als Phänomen der Lebenswelt ihrer Spieler*innen durchaus ernstzunehmen sind, berichtet der Rostocker Philosophie-Student Justin Nolte im Interview.
MD: Erzähl doch bitte kurz, wer du bist und was du studierst.
JN: Hey, ich bin Justin Nolte und studiere Philosophie des Sozialen. Gerade schreibe ich meine Masterarbeit zum phänomenologischen Begriff des Fremden, bin also schon ziemlich am Ende meines Studiums.
Wie kam es zu deiner Beschäftigung mit dem Thema Phänomenologie und Spiele?
Mit Computerspielen bin ich aufgewachsen. Neben den klassischen "Fun-Games" wie Mario (in all seinen Varianten) waren es vor allem StarCraft 2 und League of Legends, die mich damals so richtig gepackt haben. Diese beiden Spiele haben mich auch zum ersten Mal dazu gebracht, mich näher mit Game Design zu beschäftigen, damals natürlich noch eher oberflächlich.
Die Phänomenologie kam dann später im Studium dazu. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr genau, was ich zuerst gelesen habe, nur noch, dass der Autor sich explizit als Phänomenologe bezeichnete. Mich hat sofort fasziniert, wie direkt sich der Text mit meiner eigenen Lebenswelt auseinandergesetzt hat, also nicht abstrakt "von oben drauf blickend", sondern wirklich nah und erfahrungsbasiert.

Haben sich die beiden Themen von Anfang berührt?
Lange Zeit liefen diese beiden Welten, Games und Phänomenologie, dann eher nebeneinander her. Das änderte sich vor etwa einem Jahr, als ich im Programm der Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie einen Workshop entdeckt habe, der Computerspiele zum Thema hatte.
Ab da ließ mich der Gedanke nicht mehr los: Das Erleben von Videospielen ist für viele ein alltägliches Phänomen und trotzdem gibt es in der phänomenologischen Forschung bisher erstaunlich wenig dazu.
Woran liegt das?
Woran das liegt? Wahrscheinlich daran, dass viele der einflussreicheren Phänomenologen entweder nie Kontakt mit dem Medium hatten (zu alt oder schon tot), oder weil Phänomenologie, zumindest in den prägendsten Varianten, eine eher technikdistanzierte Haltung einnimmt.
Wie kam es vor diesem Hintergrund zu der Idee, trotzdem einen phänomenologischen Spieleabend zu machen?
Seit dem Workshop auf der Tagung hatte ich den Gedanken im Kopf, Videospiele einmal explizit aus phänomenologischer Perspektive zu untersuchen. Daraus entstand schnell die Idee, das Ganze im Rahmen einer Uni-Veranstaltung umzusetzen.
Das hatte für mich mehrere Vorteile: Zum einen spricht man mit Games viele Studierende an, für die Zocken ganz normaler Alltag ist, und gleichzeitig öffnet man das Thema für diejenigen, die zwar wenig mit Spielen, aber mehr mit Phänomenologie anfangen können. Man bringt also zwei Welten zusammen. Die einen entdecken die Phänomenologie (die, obwohl wir an der Uni Rostock einen Lehrstuhl für Neue Phänomenologie haben, aus meiner Sicht von zu wenigen Studierenden beachtet wird), und die anderen bekommen ein Gefühl dafür, wie ernst zu nehmend und vielschichtig Games als Erfahrungsräume sein können.
Also habe ich nach der Tagung ein Konzept geschrieben und beim Fachschaftsrat Philosophie angefragt, ob wir das mal ausprobieren wollen. Die fanden die Idee super und so fand mit ihrer fleißigen Unterstützung dann im Januar der erste phänomenologische Spieleabend statt.
Wie muss man sich so einen Spieleabend vorstellen? Stellt jemand ein Spiel vor und ihr diskutiert darüber, oder spielt ihr zusammen/getrennt und dann redet ihr darüber?
Die Idee hinter dem Spieleabend ist, das Ganze bewusst offen zu halten, einfach, weil es in diesem Bereich (Phänomenologie und Computerspiele) bisher noch kaum Forschung gibt. Die phänomenologische Untersuchung soll also im besten Sinne von den Teilnehmenden selbst geleistet werden. Ob am Ende ein klares Ergebnis rauskommt, ist dabei erstmal zweitrangig.
Konkret läuft der Abend so ab: Ich (oder jemand anderes) stelle zu Beginn in etwa 15 bis 20 Minuten ein Begriffsfeld oder eine Auswahl an phänomenologischen Begriffen vor, die für das jeweilige Spiel relevant sein könnten. Danach wird das Spiel tatsächlich gespielt, wie genau, hängt vom Spiel selbst ab. Bei einem Einzelspieler-Horror-Game muss man das natürlich anders organisieren als bei einem schnellen Multiplayer-Spiel.
Etwa zur Hälfte gibt es eine erste kurze Diskussionsrunde, in der schonmal Eindrücke und Beobachtungen geteilt werden können. Am Ende folgt dann eine Abschlussdiskussion, in der erste Ergebnisse gesammelt und gemeinsam Begriffe auf das Spielerleben angewendet werden. Entscheidend ist, dass man genauer hinschaut: Wie erlebe ich das Spiel? Was zeigt sich da eigentlich genau?
Laufen die Diskussionen direkt theoriegeleitet an, z.B. mit Rückgriff auf Hermann Schmitz, Gernot Böhme oder andere?
Durch den kleinen Vortrag am Anfang versuche ich schon, eine theoretische Grundlage zu legen. Da bei jeder Veranstaltung neue Begriffe vorgestellt werden, erweitert sich mit der Zeit auch das "Alphabet", mit dem die Teilnehmenden arbeiten können, vor allem, wenn sie öfter dabei sind.
Während der Diskussionen achte ich als Moderator darauf, dass die Gespräche möglichst im Rahmen phänomenologischer Begrifflichkeiten bleiben. Aber natürlich klappt das nicht immer. Es gab auch Momente, in denen jemand überhaupt nicht wusste, wie das eigene Erleben begrifflich zu fassen wäre.
Was die Theorie angeht, nutzen wir bislang ausschließlich Begriffe der Neuen Phänomenologie, also von Hermann Schmitz. Die kenne ich einfach am besten (wobei ich immer dazu sage, dass ich kein Schmitz-Experte bin. Wer es genau wissen will, sollte schon selbst nochmal nachlesen). Dass wir ausgerechnet mit dieser Richtung arbeiten, liegt natürlich auch daran, dass wir an der Uni Rostock den Lehrstuhl für Phänomenologie haben, mit Michael Großheim, einem Schüler von Schmitz.
Aber das heißt nicht, dass andere phänomenologische Ansätze nicht auch spannend wären. Der Begriff des Horizonts etwa scheint mir in meiner oberflächlichen Lektüre ziemlich fruchtbar, besonders wenn es um Open-World-Spiele geht und die Frage, wie sich Räume in ihnen erschließen.
Was kann die Neue Phänomenologie deiner Ansicht nach zum Verständnis der Nutzung digitaler Spiele beitragen?
Philosophie ist, so Hermann Schmitz, "Sichbesinnen des Menschen auf das Sichfinden in seiner Umgebung". In diesem Sinne geht es bei der Neuen Phänomenologie darum, das eigene Erleben bewusster wahrzunehmen, also nicht nur was man erlebt, sondern wie man es erlebt, und wie man dieses Erleben sprachlich fassen kann.
In Bezug auf digitale Spiele heißt das: Bisher wurde viel untersucht, welche Einzelaspekte von Spielen psychische oder physische Effekte auf die Spielenden haben. Spiele werden dabei oft in technische Einzelheiten zerlegt und, in Schmitz' Sprache, als Konstellationen beschrieben.
Was dabei aber oft fehlt, ist die Beschreibung der Situationen, in die Spielende durch das Spiel hineingezogen werden. Die Atmosphäre eines Spiels wird schnell auf bestimmte Faktoren wie Sound oder Grafik reduziert, ohne dass wirklich gesagt wird, was das für eine Atmosphäre ist, oder wie sie sich anfühlt.
Und genau da sehe ich die Stärke der Neuen Phänomenologie: Sie kann helfen, das Spielgeschehen als leiblich und atmosphärisch bestimmtes Geschehen ernst zu nehmen, nicht nur als Mechanik, sondern als Erfahrung.
Gab es in der Hinsicht interdisziplinäre Reibungspunkte, z.B. zwischen Teilnehmer*innen mit und ohne Phänomenologie-Erfahrung?
Ja, die gab es, wobei "Reibung" vielleicht ein zu starkes Wort ist. Es war eher gegenseitiges Unverständnis. Die Neue Phänomenologie grenzt sich an vielen Stellen bewusst von anderen Denkansätzen ab, besonders vom naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. Und das führt natürlich dazu, dass manche erstmal nicht viel mit ihren Begriffen anfangen können.
An der Stelle würde ich kurz einhaken und eine Anmerkung machen, weil es da manchmal zu einer gefährlichen Entwicklung kommt. Da die Neue Phänomenologie körperliche (objektivierbare, messbare) Regungen von leiblichen (nicht so gut auf einzelne Sinnesreize reduzierbaren) Regungen unterscheidet, wird sie manchmal aus ihrer erkenntnisphilosophischen Verortung gelöst und in sehr anwendungsbezogene, manchmal sogar esoterische Kontexte eingebracht. Eine erkenntnistheoretisch motivierte Abgrenzung sollte aber nicht als Zurückweisung von Wissenschaft verstanden werden.
Zumindest in den Texten, die ich kenne, hat Schmitz angemerkt, dass leibliche Regungen naturwissenschaftlich erklärbar sein können; nur war so eine Erklärung nicht sein Interesse. Es sollen einfach Phänomene ernstgenommen werden, die zur menschlichen Lebenswelt gehören, auch wenn sie nicht direkt einzelnen Teilen des medizinisch-objektivierten Körpers zuzuordnen sind.
Einer wahrgenommenen Atmosphäre auf einer Party, in einem Meeting oder eben beim Spielen kann man sich produktions- und rezeptionsästhetisch vielleicht umfassender nähern als nur psychologisch, medizinisch oder biologisch. Produktionsästhetisch kann man mit Gernot Böhme arbeiten, der über das Machen von Atmosphären schrieb [was 2023 Felix Zimmermann in seiner Dissertation "Virtuelle Wirklichkeiten" so beispielhaft gezeigt hat], und rezeptionsästhetisch bietet Hermann Schmitz ein Vokabular.
Das Arbeiten mit solchen phänomenologischen Begriffen ist aber vermutlich anfangs nicht ganz einfach, oder? Wie habt ihr das bei eurem Spieleabend erlebt?
Die Anmerkung ist tatsächlich wichtig und hatte ich an dieser Stelle etwas außer Acht gelassen.
Zum Umgang mit den Begriffen erinnere ich mich z.B. an ein Gespräch mit einem Studenten nach einer Veranstaltung, in dem ich versucht habe, das Konzept der chaotischen Mannigfaltigkeit zu erklären, also die Idee, dass es "an sich" kein Einzelnes gibt, sondern wir Einzelnes erst herauslösen. Er hat mir zwar höflich und interessiert zugehört, aber empfand den Gedanken schon eher absurd.
Auch von Teilnehmenden, die eher aus der klassischen Phänomenologie kamen (wobei davon nicht viele dabei waren), gab es ähnliche Reaktionen, da Schmitz sich an vielen Stellen stark von Husserl oder Heidegger unterscheidet und in den Diskursen der "alten Phänomenologie" schlicht kaum vorkommt. Da merkt man dann schon, dass die Begriffe der Neuen Phänomenologie nicht so weit verbreitet sind, wie man manchmal annimmt als jemand, der sich regelmäßig mit ihnen beschäftigt.
Zum Schluss aus Neugier noch die Frage: Welche Titel habt ihr denn bisher konkret gespielt?
Beim letzten Mal haben wir uns allein mit Mario Kart 8 Deluxe beschäftigt; unser begriffliches Grundgerüst beinhaltete die Konzepte Engung und Weitung, Einleibung, Ausleibung sowie Bewegungssuggestionen. Für das nächste Mal ist The Last of Us und in diesem Zusammenhang das Konzept der Fassung geplant.
Justin, hab vielen Dank für deine Einblicke! Ich wünsche dir viel Erfolg für weitere Spieleabende und natürlich auch für deine Masterarbeit!
Disclaimer: Der im Interview erwähnte Workshop wurde vom Autor dieses Interviews durchgeführt. Das Interview wurde bereits im April 2025 geführt.
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