ÜBERSTROM

Phänomenologie

Die Macht von Atmosphären in Filmen und Serien: Interview mit Wiebke Schwelgengräber (Teil 1)

von Mario Donick

21.08.2022

Filme und Serien erschaffen oft Atmosphären, die uns wie gefangen nehmen. Und wir sind traurig, wenn es zu Ende ist. Warum das so ist, darüber spricht Über/Strom-Buchautorin Wiebke Schwelgengräber im Interview.

Ein Fernseher in einer computergenerierten Halle mit spitzen Rundbögen

Aktuell stehen wieder einige 'große' Fernseh- bzw. Streamingserien im Mittelpunkt feuilletonistischen Interesses. Am Montag startet HBOs House of the Dragon (die Vorgeschichte zu "Game of Thrones") und ab 2. September beginnt Amazons "Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht". Das herausragende "Better Call Saul" (die Vorgeschichte einer Nebenfigur aus "Breaking Bad") ging dagegen gerade zu Ende. Zeitlich recht passend ist nun Wiebke Schwelgengräbers Buch "Wer sehen will, muss spüren: Warum uns manche Serien und Filme berühren und uns andere kaltlassen"1 erschienen (Band 4 unserer Über/Strom-Buchreihe2). Im ersten Teil dieses Interviews spricht die Autorin über filmisch erzeugte Atmosphären, wie wir diese wahrnehmen und warum wir traurig sind, wenn eine geliebte Serie zu Ende geht.

MD: In deinem Buch beschreibst du teils psychologisch, aber primär aus Sicht der Philosophie, v.a. der Phänomenologie, wie wir Filme und Serien quasi am ganzen Leib wahrnehmen – zumindest wenn wir uns ganz auf diese einlassen. Das ist ein wichtiges, nur selten so ausführlich dargestelltes Thema und dazu kommen wir gleich noch. Aber zu Beginn würde ich gerne wissen, welchen Film du zuletzt geguckt hast?

WS: Das war "Nobody" mit Bob Odenkirk.

Und wie war es?

Die Autorin Wiebke Schwelgengräber
Wiebke Schwelgengräber studierte Germanistik, Philosophie und Kommunikation. Gerade erschien ihr Buch "Wer sehen will, muss spüren".

Ich fand ihn ganz unterhaltsam. Ich dachte erst, dass die Sozialisation des Protagonisten Hutch im Vordergrund steht und er wesentlich tiefsinniger ist, aber es war ein Actionfilm mit viel Rumgeballer. Ein bisschen John Wick, aber nicht ganz so gut. Dennoch eine nette Form des Eskapismus, wo ich nicht viel nachdenken musste, sondern mich einfach treiben lassen konnte.

Vertraute Atmosphären

Ich persönlich schaue ja seit Jahren immer wieder dieselben Filme und Serien – oft eher ältere, die ich auch schon vor zehn oder zwanzig Jahren geschaut habe. Neuere haben oft Schwierigkeiten, mein längerfristiges Interesse zu halten. Wie kann man das erklären?

Ich glaube, der Schwerpunkt deiner Frage liegt vielleicht darauf, warum manche von uns immer wieder dieselben alten Serien anzuschauen. Das muss doch eigentlich langweilig sein. Denn man kennt doch im Grunde schon alles: das Ende, die Handlungen und Verhaltensweisen der Figuren, bestimmte Wendepunkte usw. Aber das ist vielleicht genau der Grund, warum man immer wieder dieselben Serien und Filme schaut.

Bei Kindern kann man das gut beobachten. Sie wollen immer wieder dieselbe Geschichte hören. Das kann ich gut verstehen. Ich habe auch gerade wieder alle Staffeln von "Breaking Bad" geschaut. Dieses Schauen hat etwas Vertrautes an sich, wir lassen uns erneut von der Atmosphäre der Serie gefangen nehmen.

Vielleicht haben wir auch zu den Figuren eine Beziehung aufgebaut. Dass ich zum Beispiel zuletzt den Film "Nobody" geschaut habe, hat auch damit zu tun, dass ich die Hoffnung hatte, dass der Schauspieler Bob Odenkirk (Saul bei "Breaking Bad") mich wieder in die bei "Breaking Bad" gefühlte Atmosphäre versetzen würde – was aber nicht geklappt hat. Ich musste mich dann darauf einlassen, dass es eben nicht Saul ist, was aber natürlich für den Schauspieler spricht. Übrigens fange ich jetzt wieder "Better Call Saul" an, dessen Ende ich noch nicht kenne.

Kann auch eine gewisse Vorfreude auf eine erhoffte Atmosphäre, in die wir uns versetzen wollen, eine Rolle spielen? Also wenn ich mich zum Beispiel darauf freue, nach Feierabend zum x. Mal "Columbo" bei der Mordermittlung zu beobachten, oder meinen alljährlichen "Battlestar Galactica"-Rewatch starte, oder ich "House of the Dragon" schaue, weil ich will, dass es sich wie die ersten Staffeln von "Game of Thrones" anfühlt?

Ja. Da wird die Vorfreude vielleicht sogar selbst zu einer Atmosphäre, die wir leiblich spüren. Auch eine nostalgische Atmosphäre kann sich uns atmosphärisch aufdrängen und leiblich vereinnahmen und ein gutes Gefühl, eine innere Weite in Form einer Entspannung verursachen.

Manche Serien schaue ich sogar nur wegen bestimmter Folgen, weil diese mich in eine bestimmte Stimmung versetzen - den Rest ignoriere ich eher. Auch Filme schaue ich nicht unbedingt wegen einer ausgefeilten Handlung, sondern wegen der Atmosphäre. Was sind Atmosphären eigentlich und warum sind Atmosphären so 'mächtig'?

Wir alle erleben im Alltag ständig verschiedene Atmosphären. Zum Beispiel die eines lauen Sommerabends, oder die heitere Atmosphäre einer Grillparty, oder die beklemmende Atmosphäre eines Horrorfilmes oder Horrorspiels. Der Philosoph Hermann Schmitz sagte, dass wir Atmosphären ganzheitlich wahrnehmen.

Das heißt, Atmosphären kommen für uns in einem einzelnen Augenblick ganz zum Vorschein. Wir sind dann ganz von ihnen umgriffen, ohne genau sagen zu können, wo am Körper das ist. Es ist der ganze Leib, der umhüllt ist von der Atmosphäre (und übrigens unterscheiden viele Phänomenolog:innen daher auch den Körper als messbares Objekt vom Leib unserer subjektiven Wahrnehmung).

Wie gelingt es Filmen und Serien eigentlich, eine spezifische Atmosphäre zu erzeugen?

Dafür gibt es verschiedene Mittel. Das kann man gut anhand von Horrorfilmen erklären. Da gibt es oft eine beklemmende Atmosphäre. Farben, Klänge, Oberflächen, Geräusche können uns Empfindungen suggerieren, ohne dass wir die Reize aufgrund eingehender Sinnesdaten sehen, berühren, hören usw. können.

Es reicht dann aus, wenn wir sehen, wie das spitze Messer sich durch den Daumennagel bohrt. Und schon suggeriert dieses Bild uns eine leibliche Empfindung in der Art einer Berührung: Mein eigener Daumen wird dann in den Fokus gerückt und wird für mich spürbar – aber eben nicht körperlich, sondern leiblich. Der Fachbegriff hierfür lautet übrigens synästhetische Charaktere.

Auch Oberflächen können abstoßend wirken und unangenehme Berührungsempfindungen auslösen. Wenn ich zum Beispiel das glitschige Wasser im Brunnen des Filmes "Ring" sehe, dann löst dieser weiche, matschige, glitschige (Schmitz würde sagen: protopathische) Charakter in mir ein Gefühl des Ekels aus.

Interessant finde ich auch, wenn man eine actionreiche Szene sieht und dann unwillkürlich mitgehen will oder mitgerissen wird. Zum Beispiel die Kampfszenen in den Filmen "Nobody" und "John Wick", die du angesprochen hast. Oder als damals am Ende von "Game of Thrones" der Drachen die Stadt Königsmund zerlegt hat und ich seinen Feuerstößen und den Trümmern fast ausweichen wollte. Kann man das auch unter Atmosphären fassen?

Ja, denn ein weiteres Mittel zur Erzeugung von Atmosphären sind sogenannte Bewegungssuggestionen. Es handelt sich dabei um eine Ahnung, eine Vorzeichnung einer Bewegung. Sie kann von allem möglichen ausgehen. Musik zum Beispiel suggeriert in uns Bewegungen, die wir leiblich spüren, aber nicht zwingend körperlich ausführen müssen.

Oder wenn im Horrorfilm "Ring" das gruselige Mädchen Samara auf mich zukommt, dann möchte ich mich abwenden. Dieses Auf-mich-zu-kommen löst in mir den Drang aus, weit wegzulaufen. So könnte ich der leiblichen Enge entkommen und wieder eine Entspannung in Form einer leiblichen Weitung verspüren. Diese Suggestion muss wie gesagt nicht zwingend körperlich Ausdruck finden. Aber sie kann es, indem ich mich wirklich vom Bildschirm abwende oder schreiend aus dem Raum laufe.

Aufwachen und der Verlust der Atmosphäre

Atmosphären scheinen also wirklich eine gewisse Macht über uns zu haben, zumindest wenn wir uns auf sie einlassen. Das führt mich aber zu einem Problem: In deinem Buch hast du ein Kapitel darüber, wie es ist, in ein Loch zu fallen, wenn eine Serie zu Ende ist. Das kenne ich gut. Das hatte ich gerade erst wieder bei "Star Trek: Deep Space Nine". Am Ende geht dann doch alles recht schnell und die Atmosphäre, in die ich mich über Wochen fallenlassen konnte, ist weg. Ich versuche gerade, das Verlustgefühl mit dem Lesen einiger DS9-Romane zu füllen, aber … naja. Warum hat man so ein Verlustgefühl und kann man was dagegen tun?

Dieses Loch ist ein interessantes Phänomen. Das hat man ja auch bei guten Büchern, die zu Ende gelesen sind. Das nächste Buch zu finden, ist dann nicht ganz einfach. Man sucht dann eines, das dem gelesenen Buch ähnlich ist, das eine ähnliche Atmosphäre auslöst. Bei Filmen, Serien und manchen Computerspielen habe ich das auch oft beobachtet.

Ich denke, wir vermissen die gespürte Atmosphäre, in der wir uns beim Schauen befunden haben und die ausgelöst wurde von der Machart und von den Inhalten dieses einen Films oder dieser einen Serie. Viele kennen das sicher, wenn man völlig aufgeht in einer Serie und man alles um sich herum vergisst.

Man kann davon sprechen, dass der eigene Leib, d.h. alles das, was man fühlt und wie man gerade aktuell zur Welt steht, ein übergreifendes Gefüge mit der Serie eingeht. Man schwingt dann mit den Figuren und mit der Atmosphäre mit (der Soziologe Hartmut Rosa würde hier vielleicht von Resonanz sprechen). Das ist beim Musikhören, beim Spielen und beim Lesen ganz ähnlich.

Diese Erfahrung wird, sobald man 'aufwacht' aus diesem Gefüge, leiblich sehr spürbar. Für kurze Zeit war man völlig abwesend und gänzlich mit der Serie einverleibt. Der jeweilige Inhalt und die Atmosphäre, ob nun melancholisch, heiter, düster usw., wirken mit der leiblichen Versunkenheit zusammen und unterstützen diese sicher.

So kann es sein, dass die Atmosphäre einer Serie, auch nachdem diese zu Ende ist, im wahrsten Sinne lange nachhängt und einen leiblich geradezu umhüllt. Und dies kann ein sehr schönes Gefühl sein, welches wir vermissen, wenn es nicht mehr da ist. Es fühlt sich dann an, als würde man in ein Loch fallen, in dem man sich hohl, schwer und leer fühlt und gleichzeitig nach der gespürten Atmosphäre sehnt.

Die Unterhaltungsindustrie spekuliert sicher auf diesen Effekt. Aber warum haben es Nachfolgeserien und Prequels erfolgreicher Serien so schwer, die vermisste Atmosphäre wieder aufleben zu lassen (Positivbeispiele wie Better Call Saul als Prequel zu Breaking Bad sind ja seltene Ausnahmen). Die New York Times schrieb in einer Rezension zu den ersten Folgen von House of the Dragon3 (dem Game of Thrones-Prequel, das ab Montag startet) sinngemäß, dass alle Zutaten da sind, aber doch irgendetwas fehlt. Aber so richtig bestimmen konnte der Rezensent das nicht.

Sich wieder umgeben zu wollen mit genau dieser oder zumindest einer ähnlich gespürten Atmosphäre erfordert nicht nur eine entsprechende Umsetzung in den Serien, sondern verlangt auch von uns als Zuschauer:innen, aktiv zu werden. Wir müssen eine neue leibliche Kommunikation mit einem anderen Film/einer anderen Serie einzugehen und dazu bereit sein.

Da gibt es aus meiner Sicht mehrere Möglichkeiten: Wir können z.B. in unsere Erinnerungen blicken. Ich würde dies als eine Art inneren suchenden Sinn bezeichnen, um die gespürte Atmosphäre wieder heraufzubeschwören. Das ist ziemlich anstrengend und wirkt wohl nicht sehr lange.

Einfacher ist es vielleicht, die Serie erneut zu schauen. Bei "House of The Dragon" würde ich auf jeden Fall vorher nochmal "Game of Thrones" schauen, um überhaupt wieder in das Serienuniversum reinzukommen - vielleicht funktioniert der Nachfolger dann auch besser.

Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass bis zum wiederholten Schauen etwas Zeit vergangen sein sollte, damit die gewünschte Atmosphäre noch einmal ähnlich leiblich spürbar wird bzw. die verschiedenen Emotionen, die wir verspüren, annäherend so intensiv sind wie beim ersten Mal.

Was es mit Emotionen beim Schauen von Filmen und Serien auf sich hat, und warum wir bei Serien auch irgendwann abstumpfen können, ist u.a. Thema des zweiten Teils des Interviews, das in Kürze erscheint.

Externe Links

1 Wiebke Schwelgengräbers Buch "Wer sehen will, muss spüren" im Shop von amazon.de [Achtung: Dieser Link führt zum Unternehmen Amazon. Da Amazon ein Unternehmen aus den USA ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

2 Verlagswebsite bei springer.com zur Über/Strom-Buchreihe [Achtung: Laut Datenschutzerklärung des verlinkten Anbieters nutzt der verlinkte Anbieter auf seiner Website u.a. Google-Dienste. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

3 Rezension der New York Times zu den ersten Folgen der Serie "House of the Dragon" [Achtung: Dieser Link führt auf einen Server in den USA und überträgt zwangsläufig Ihre IP-Adresse in die USA Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

 

Titelbild: pixabay / PIRO4D

 

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