ÜBERSTROM

Phänomenologie

Echte und falsche Gefühle in Filmen und Serien: Interview mit Wiebke Schwelgengräber (Teil 2)

von Mario Donick

29.10.2022

Im zweiten Teil des Interviews mit Über/Strom-Buchautorin Wiebke Schwelgengräber geht es um echte und falsche Gefühle, Langeweile bei "2001", die Enttäuschung "Die Ringe der Macht" und Fremdscham bei "Top Gun: Maverick".

Ein alter Röhren-Fernseher vor einem pastell-rosa Hintergrund

Dies ist die Fortsetzung des Interviews, dessen ersten Teil über die Macht von Atmosphären Sie hier finden.

MD: Wenn ich mir eine Serie anschaue, empfinde ich eine ganze Menge: Ich kann aufgeregt sein, hibbelig auf meinem Stuhl sitzen, weil es so spannend ist; ich kann gelangweilt sein; ich kann traurig sein, wenn ein Film sozusagen 'auf die Tränendrüse drückt' oder auch ganz unerwartet etwas in mir berührt, mit dem ich vielleicht gar nicht gerechnet habe. Aber hinterher ist es doch oft vorbei - ist denn das, was ich da empfinde, ein echtes Gefühl - oder doch nur eine Art Illusion?

WS: Darüber wird in der Philosophie tatsächlich gestritten. Die Philosophin Íngrid Vendrell Ferran hat dazu 2010 einen kleinen Überblick über die Geschichte der sogenannten Quasi-Gefühle geschrieben, die von der Grazer Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden.1 Die Philosophen der Grazer Schule haben sich auf die von David Hume entwickelte Idee von sogenannten "Quasi-Gefühlen" gestützt. Damit ist gemeint, dass die Gefühle, die ästhetische Erfahrungen auslösen, keine echten Gefühle seien.

Die Autorin Wiebke Schwelgengräber
Wiebke Schwelgengräber studierte Germanistik, Philosophie und Kommunikation. Gerade erschien ihr Buch "Wer sehen will, muss spüren".

Ästhetische Erfahrungen machen wir ja im Alltag sehr oft, beim Film- und Serienschauen, beim Computerspielen, beim Lesen usw. Doch statt 'echter' Gefühle seien solche erlebten Gefühle "Scheingefühle", "Phantasiegefühle" oder eben auch "Quasi-Gefühle". Angeblich werden solche Gefühle weniger intensiv erlebt. Zudem konnten sich die Philosophen nicht erklären, warum man denn Lust daran haben sollte, Trauer, Ekel oder andere eigentlich unangenehme Gefühle empfinden zu wollen. Dann muss es doch so sein, dass solche Gefühle eben weniger gefühlt werden.

Ich selbst möchte aber nicht von "Schein- oder Quasigefühlen" sprechen. Denn das, was wir beim Filmeschauen empfinden, ist keine Illusion, sondern durchaus sehr echt. Wir erleben doch die Gefühle am eigenen Leib, und das kann sehr intensiv sein, wie du oben ja beschreibst. Stattdessen würde ich behaupten, dass wir die Gefühle, die wir in einem Kunstraum empfinden, anders bewerten als Gefühle, die wir eben im 'echten' Leben empfinden.

Wir begeben uns ja in die künstliche Welt des Films, der Serie, des Buches, des Theaters, des Spieles usw., um eben Gefühle zu erleben. Darüber sind wir uns bewusst und bewerten dieses Gefühlserlebnis - das zumindest behaupte ich - anders als zum Beispiel einen echten Trauerfall in der Familie. In der Psychologie spricht man hierbei von emotionsrelevanten Kognitionen, also davon, dass wir unsere Gefühle auch bewerten können und u.a. diese Bewertungen das Gefühl erst zu dem Gefühl werden lassen, das wir dann empfinden.

Wenn ich also traurig und schockiert bin, weil Severus Snape in "Harry Potter" den Schulleiter Albus Dumbledore mit dem Avada Kedavra-Fluch tötet und Dumbledore anschließend vom Astronomieturm stürzt, dann ist das ein echtes Gefühl. Es ist aber sicher anders zu der Trauer, die ich empfinde, wenn mein eigener Vater stirbt. Das hat mit der Bewertung der Figuren für mein eigenes Leben zu tun, und das mit der Bewertung der empfundenen Gefühle im jeweiligen Kontext. Ich fühle für Dumbledore wohl auch tief, weiß aber, dass er eine künstliche Figur ist, im Gegensatz zu meinem Vater.

Mit dem "tief fühlen" bei fiktionalen Werken ist es so eine Sache. Wenn ich an einen echten Verlust denke, bin ich noch Jahre später traurig oder zumindest ernsthaft berührt. Aber wenn man dasselbe traurige Filmende oder die gleiche eklige Folterszene zum vielleicht fünften Mal schaut, wirkt es nicht mehr so intensiv wie früher. Woran liegt das?

Ja, das kenne ich. Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum einen ist die Erwartungshaltung sicher längst nicht mehr so intensiv bzw. auch gar nicht mehr vorhanden. Denn ich weiß, wann welche eklige oder gruselige Szene kommt, und ich weiß auch, wie der Film weitergeht, was als nächstes kommt. Andererseits wirkt auch eine gewisse Habituation, also eine Gewöhnung mit. Und in diesem Zusammenhang entschwindet auch das Atmosphärische der ganzen Szenerie, wenn ich selbst nicht mehr voller Erwartungslust bin. Wenn ich voller Erwartung und mit leiblicher Spannung die entsprechende Szene schaue, dann bin ich wie gebannt. Mich hält das kommunikative Band mit der Serie oder dem Film gefangen, der Fokus ist konzentriert. Mein Leib geht geradezu ein in sich bildendes übergreifendes Gefüge mit dem Film ein. Aber beim Verlust des Atmosphärischen fehlt genau das.

Trotzdem kann es sein, dass manche Szenen immer einen gewissen Reiz, eine bestimmte atmosphärische Kraft für Zuschauer:innen behalten. Ich erinnere mich da an "Inglourious Basterds" von Quentin Tarantino, wo der amerikanische Lieutenant Aldo Raine den Nazis mit seinem Messer Hakenkreuze in die Stirn ritzt. Ich finde es immer noch ziemlich ekelhaft und kann da kaum hinschauen, aber es ist nicht mehr so schlimm wie beim ersten Mal Schauen. Dennoch behalten diese Szenen (das Einritzritual ist mehrfach zu sehen und zu hören) ihren atmosphärischen Reiz, ich schaue sogar weg und halte mir die Ohren zu, um mich ihnen nicht auszusetzen. Das Ritz-Geräusch selbst ist schon barbarisch, so, als würde Aldo etwas in meine eigene Haut ritzen. Da fühle ich meine Stirnregion als Leibesinsel, d.h. als eine sich in den Vordergrund drängende leibliche Region, noch einmal besonders intensiv.

Das ist das eine Extrem. Aber manchmal lässt uns eine Serie oder ein Film auch einfach kalt, wie es in deinem Buch ja auch im Titel heißt. Besonders schlimm ist es, wenn man sich langweilt, aber vielleicht extra Geld für's Kino ausgegeben hat. Wie kann man Langeweile beschreiben und wie wirkt sie?

Langeweile kann so schrecklich sein. Langweilige Filme und Serien können sehr anstrengend werden, wenn man sich ihnen aussetzt und sie nicht abbricht. Langeweile zieht sich gefühlt ins Unendliche und fühlt sich, um es mit dem Soziologen Martin Doehlemann zu sagen, wie ein "unruhiger Stillstand" an. Das Schlimme ist, dass wir keine Ruhe in diesem Zustand finden, wir spüren stattdessen eine intensive Dauer, eine Langsamkeit. Einerseits kann man aufgrund der Unruhe keinen Fokus fassen, und andererseits sucht man gezielt danach, um endlich raus aus dieser Enge, raus in eine Weite, in eine Entspannung zu kommen.

Kannst du ein Beispiel geben?

Ich habe mich damals im Kino unglaublich beim Film "2001: Odyssee im Weltraum" von Stanley Kubrick gelangweilt.

Wie bitte??

Die Langeweile fühlte sich fast schon schmerzhaft an. Ich habe so viel gezappelt, denn ich musste meinem inneren Unruhestand körperlich Ausdruck verleihen. Ich habe versucht, mich zu entspannen, aber es war mir nicht möglich, eine leibliche Weite zu schaffen. Ich hätte aus dem Film gehen und mal richtig ausatmen und mir Luft verschaffen müssen. Aber ich war mit Freunden da und konnte nicht einfach so gehen. Das wäre unhöflich gewesen. Also musste ich zwei Stunden und 19 Minuten !!! aushalten. Was für eine Qual.

Du hast mir erzählt, dass du gerade die "Herr der Ringe"-Serie "Ringe der Macht" schaust und da jetzt nicht total von begeistert bist. Ist die auch langweilig für dich? Kannst du an dem Beispiel kurz nochmal erklären, wie eine Serie wirkt, welche Atmosphären sie erzeugt, welche Emotionen sie auslöst?

Tja, so richtig gefasst hat mich die Serie nicht. Ich habe die erste Staffel vor ein paar Tagen zu Ende geschaut. Die Ernüchterung ging schon damit los, dass die Musik von Bear McCreary bei "Die Ringe der Macht" sich so ähnlich anhört wie der Soundtrack zur Serie "Foundation", auch von McCreary. Ich mag seinen Musikstil sehr, aber irgendwie drängt sich mir dann doch auf, dass die "Die Ringe der Macht" ein Produkt ist, das ich kaufen soll. So bleibt die Serie für mich meistens kalt und strömt nicht die Atmosphäre aus, die ich beim Schauen der "Herr der Ringe"-Filme von Peter Jackson hatte.

Auch die Figuren selbst sind meist eher oberflächlich, was mich davon abhält, wirklich Empathie für sie zu empfinden. Ich muss, um mich empathisch einfühlen zu können in Figuren, sehr genau wissen, aus welchen Gründen sie etwas tun, welche Probleme sie haben, mit welchen Mitteln sie warum etwas bewirken wollen. Je besser ich eine Figur in einer Serie oder auch eine Person im echten Leben kennenlernen kann, desto mehr kann ich mich in sie hineinversetzen. Das fehlt mir hier. Ich kann mich nicht hineinfallen, mich nicht absorbieren lassen.

Wo du Empathie ansprichst: Als ich mir im Frühjahr aus quasi beruflichen Gründen den Film "Top Gun Maverick" angucken musste, hat das gar nicht 'funktioniert'. Statt in den entsprechenden Szenen empathisch zu sein, fand ich alles sehr unangenehm, und war insbesondere auch unangenehm vom Hauptdarsteller berührt. Ich konnte mich deswegen nicht wirklich auf den Film einlassen (und das, obwohl ich Flugzeuge mag). Ich fühlte sogar Fremdscham in manchen Szenen. Woran kann so etwas liegen?

Du sprichst davon, dass dich der Hauptdarsteller unangenehm berührt hat. Vermutlich fällt es dann schwer, den Künstler von der Figur zu trennen. Deswegen unterscheidet man in Gedichten bei der Analyse auch lyrische Sprecher:innen von Autor:innen. So ganz verstehe ich in deinem Beispiel aber den Zusammenhang noch nicht zwischen der Fremdscham und dem Hauptdarsteller. Kannst du deine Eindrücke dazu vielleicht noch etwas genauer beschreiben?

Das Problem ist, dass ich Tom Cruise keine seiner Rollen auch nur ansatzweise abnehme. Er wirkt immer irgendwie künstlich auf mich, nicht wie ein echter Mensch. In "Top Gun: Maverick" gibt es zum Beispiel diese Szene, wo sein Freund "Iceman" eine schwere Lungenkrankheit hat und klar ist, dass er bald sterben wird. Und Maverick, also die von Cruise gespielte Figur, wird da natürlich traurig sein, was von der Story her schon passt. Cruise hat den Job, diese Emotion als Schauspieler glaubhaft rüberzubringen. Der Darsteller drückt sich dann da auch die Tränen raus, aber es wirkte völlig unnatürlich auf mich. Das war ein Beispiel für die Fremdscham, die ich beim Schauen empfand. Vielleicht würde man heute auch "cringe" dazu sagen, keine Ahnung.

Ja, das ist dann wohl wirklich die Schwierigkeit, dass der Künstler für dich nicht in der Lage ist, die Figuren zu schauspielern. Tom Cruise wird dann für dich nicht zu Captain Pete "Maverick" Mitchell, sondern er bleibt Tom Cruise. Dann entsteht eine andere atmosphärische Begebenheit für dich, nämlich ein abstoßendes Gefühl. Du möchtest dir die ganze Situation, die ganze Atmosphäre des Ekels und auch der Fremdscham, die dich da überkommt, schnellstens wieder ausleiben, dich von dem kommunikativen Band zwischen dir und dem Film lösen und ganz schnell flüchten.

Und die Fremdscham ist ja ein besonderes Gefühl. Wenn man sich schämt, möchte man geradezu im Boden versinken und hat große Schwierigkeiten, den Blicken anderer, vor denen man sich schämt, standzuhalten. Du erfährst die Scham aber nicht auf dich bezogen, sondern übernimmst für Tom Cruise stattdessen diese Rolle, denn er sollte sich ja eigentlich schämen, weil er gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt. Diese Konventionen beziehen sich hier zum Beispiel auf seine schauspielerischen Leistungen oder auch auf etwas, dass anderweitig mit seiner Person außerhalb der Filmwelt zu tun hat. Die Scham ist also ein moralisches Gefühl. Und auch das ist wieder ganz spannend, dass sich, in diesem Sinne, brüchige Moral fühlen lässt.

Externe Links

1 Vendrell Ferran, Íngrid (2010). Ästhetische Erfahrung und Quasi-Gefühle. In: Raspa, Venanzio (Hg). Meinong Studien IV / Meinong Studies IV. The Aesthetics of the Graz School. Heusenstamm: Ontos, S. 129-168. / Zurück zum Artikel

 

Titelbild: pexels.com / Anete Lusina

 

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