ÜBERSTROM

Buch-Rezension

"Schreiben" in Gesellschaft. Carolin Amlingers große "Soziologie literarischer Arbeit"

von Mario Donick

04.12.2021

"Heute kann ja echt jeder ein Buch schreiben", hieß es noch lange nach der Wende bei uns zu Hause oft, kopfschüttelnd und aus vielerlei Gründen enttäuscht. Andererseits war da die Sehnsucht nach dem eigenen "Bestseller". Zum Teil bezogen sich solche Aussagen auf die wahrgenommene Masse neuer Bücher und deren mitunter fragwürdige literarische Qualität (wie auch immer die definiert war). Aber es ging auch um die veränderte Rolle, die Schriftsteller:innen nun einnahmen.

Im "Leseland DDR" erlaubte die herausgehobene Stellung einiger Autor:innen auch eine Vermittlerfunktion zwischen Einzelnen und Staat - wenn etwa durch einen Brief an eine angesehene Schriftstellerin eine Eingabe beim Staat mehr Gewicht erhielt und so der gewünschte Effekt früher oder stärker eintreten konnte (ich erinnere hier ein konkretes Beispiel aus unserer eigenen Familie).

Nach der Wende hingegen erschienen Schriftsteller:innen nun auch im Osten als das, was sie im Westen schon jahrzehntelang waren: als Teil einer Kulturindustrie, die nach kapitalistischen Gesetzen funktioniert. Ein Buch musste nicht mehr allein künstlerischen (oder ideologischen, wie man hinzufügen sollte) Ansprüchen genügen, sondern sich vor allem erstmal verkaufen können (oder der Verlag musste das zumindest annehmen), sonst wurde es nicht publiziert. "Jeder" war damit in der Wahrnehmung des eingangs zitierten Satzes vor allem jede:r mit Verkaufstalent, während die literarische Qualität zweitrangig schien.

Inwieweit diese Wahrnehmung nach der Wende mehr persönliche Enttäuschung, Verbitterung vielleicht, darstellte, denn realistische Beschreibung der geänderten Verhältnisse, sei mal dahingestellt. Dass aber ohne die Macht über Produktionsmittel in einer kapitalistischen Gesellschaft kein Buch entstehen kann, das dann gelesen werden könnte, ist einer der Ausgangspunkte von Carolin Amlingers Dissertation "Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit" (Suhrkamp, 2021, 800 S., 32,90 EUR).

Die Entwicklung des literarischen Marktes

Carolin Amlinger fragt im ersten Teil ihrer Arbeit, "wie es um den Status der Literatur in der modern-kapitalistischen Gesellschaft bestellt ist und wie die Gesellschaft der Literatur beschaffen ist" (S. 51, Hervorh. i. O.). Dies untersucht Amlinger anhand des Literaturmarkts der Jahre 1871-1918, der Kulturindustrie 1948-1990 und schließlich der Zeit nach der Wende ab 1990, als sich die "Literatur zwischen Boom und Krise" (Kapitelüberschrift) bewegte.

Die Auswahl der Zeiträume wird damit begründet, dass es sich jeweils um Zeiten des Umbruchs und in der Folge der Ungewissheiten handelte, was Produktionsweisen, "neuartig[e] Publikationsstrategien" und "soziale Verwerfungen" (ebd.) betraf. Explizit ausgeklammert werden die beiden deutschen Diktaturen. Amlinger weist darauf hin, dass sie keine durchgängige Literaturgeschichte bieten kann (S. 55) und "keinesfalls einer historischen Verdrängung Vorschub leisten [möchte]" (ebd.).

Vor meinem zu Beginn geschilderten Hintergrund hätte ich eine kontrastive Darstellung vor allem der DDR-Zeit natürlich spannend gefunden, jedoch hätte Amlingers Arbeit dadurch eventuell den klaren Fokus auf die kapitalistische Gesellschaft verloren. Außerdem kann man im zweiten und dritten Teil des Buches dann doch einige Unterschiede erkennen, weil Amlinger diesen Kapiteln die Auswertung ihrer Befragungen von Schriftsteller:innen zugrundelegt.

"Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe […]" (Wilhelm II., "Die wahre Kunst", zit. n. Amlinger 2021, S. 86)

Von diesem Zitat des deutschen Kaisers Wilhelm II. aus dem Jahr 1901 - das neben der kaiserlichen Anmaßung, Kunst definieren zu wollen, erstmal auch die Beobachtung ausdrückt, dass Kunstwerke auf einmal zu einem Wirtschaftsgut werden -, bildet sich in einer äußerst lesenswerten Darstellung ein Bogen zur heutigen turbokapitalistischen, von Unternehmensberatungen geprägten Situation:

"Da guckt dich ein neues, großes Ungeheuer jeden Tag an […] Und dieses Ungeheuer ist ein Markt mit zwei gigantischen Glubschaugen, die mich fixieren und sagen: Hast du heute eine zweistellige Rendite mit den Projekten erwirtschaftet, die du verantwortest?" (ein befragter ehem. Lektor, in: Amlinger 2021, S. 314)

So wörtlich ein von Amlinger befragter ehemaliger leitender Lektor eines Verlages, und man möchte vermuten, er ist froh, dem Hamsterrad entkommen zu sein. Es sind Zitate wie dieses, die Amlingers sehr umfangreichem Werk Lebendigkeit verleihen und es auch für Nicht-Soziolog:innen greifbar machen.

Autor:in auf dem Markt

Die Befragung von Menschen des Literaturbetriebs, zuvorderst Schriftsteller:innen, prägt den zweiten und dritten Teil der Arbeit. Im zweiten Teil geht es um die Praxis literarischen Arbeitens, nämlich das Berufsbild Schriftsteller:in, den Literaturbetrieb und das Schreiben als solches. Im dritten Teil werden die Spannungsfelder von Autorschaft und Autonomie ausgelotet. Die zahlreichen Unterkapitel dieser Teile stellen jeweils einen Aspekt in den Vordergrund, beispielsweise die Schritte des Schreibprozesses, das Problem prekärer Einkommensverhältnisse und sozialer Absicherung (das beileibe nicht nur unbekannte Nachwuchsautor:innen haben), oder der Inszenierung von Autorschaft durch die Autor:innen.

Methodisch nutzt Amlinger das episodische Interview als eine Form qualitativer empirischer Sozialforschung. Das Vorgehen wird im Anhang kurz skizziert und reflektiert, drängt sich aber sonst nicht in den Vordergrund; ich vermute, dass sich die Aufteilung und Benennung der Unterkapitel im Wesentlichen an der Kodierung mit MAXQDA und den dabei ermittelten Kategorien orientiert.

In deren Zusammenschau ergibt sich ein vielschichtiges Bild der Praxis des professionellen Schreibens - eine Praxis, die immer vor dem Hintergrund der kapitalistischen Marktwirtschaft stattfindet bzw. diese zu berücksichtigen hat. Auch Konkurrenzdruck und die Angst vor dem 'Abgehängt werden' gehören dazu:

"Die haben am Anfang Preise bekommen, wurden gehypt, mit 30, 35 oder so, und dann mit 50 will kein Mensch mehr was von ihnen drucken, sie kriegen keine Stipendien mehr. Sie leben von Hartz IV. Das muss man so sagen." (eine befragte Autorin, In: Amlinger 2021, S. 390)

Letztlich geht es dabei um "Innvoation". Diese, so Amlinger, "ist für das ästhetische Wirtschaften konstitutiv. Autor:innen konkurrieren […] um Aufmerksamkeit, indem sie eine distinkte Position einnehmen — um sich damit von dem Alten oder eben dem Neuen abzugrenzen" (S. 390). Das Generieren von Aufmerksamkeit ist für die Identität als Autor:in entscheidend. Denn "[d]er Anspruch auf Autorschaft ist eng verwoben mit Akten des Anerkennens" (S. 570). Ohne Aufmerksamkeit gibt es keine Chance auf Anerkennung, und wenn Anerkennung dauerhaft ausbleibt, wird die Identität als Autor:in prekär.

Aus dieser Perspektive muss man Inszenierungsstrategien sehen, die ebenfalls zum Problem werden können. Gerade in heutigen sozialen Medien wird das Authentische gesucht - man denke an den perfekten Instagram-Schnappschuss, der scheinbar spontan wirkt, aber vor dem es in Wahrheit zahlreiche misslungene Versuche gab. Echtheit wird gesucht, aber gerade nicht präsentiert. "So wie das Schreiben ein Ausdruck künstlerischer Subjektivität ist, soll auch die öffentliche Darstellung echt und unverfälscht wirken" (S. 596). Aber "[i]ndem das Authentische mit einem Zwang zu 'Neuem' und 'Jungen' zu einer Anforderung medialer Öffentlichkeit erhoben wird, verkehrt es sich in sein Gegenteil: das 'Klischee'" (S. 597).

Es wird deutlich, dass es alles andere als leicht ist, die eigene Identität als Autor:in zu finden und zu bewahren - vor dem wirtschaftlichen Zwang, für einen Markt zu produzieren, sich für den Markt zu inszenieren und dabei oft materielle Existenznöte zu haben, denn bezahlt wird man eben nur, wenn man regelmäßig Neues abliefert. Gelingt dies nicht, ist die Autor:in-Identität gefährdet, wie in folgendem Beispiel:

"Nachdem sie nach einer längeren Krankheit ihre Ersparnisse […] aufgebraucht hatte, war sie nicht nur angewiesen auf Arbeitslosengeld II, sondern befand sich auch in einer beruflichen Krise: Ein längerfristiges Buchprojekt zu planen, konnte sie sich schlicht nicht leisten, sie brauchte Geld - und das sofort." (S. 632)

Die Autorin konnte es sich also nicht leisten, ihrer Arbeit nachzugehen. Solche Aussagen zur wirtschaftlichen Situation von Autor:innen sind traurig und ernüchternd, auch wenn sie sicher nicht völlig überraschen können.

Über die individuellen Bearbeitungsweisen solcher und weiterer Herausforderungen zu lesen, ist hochspannend. Und (um zum Anfang dieses Artikels zurückzukommen), vielleicht kann zwar "heute ja echt jeder ein Buch schreiben", aber über das Bestehen vor dem Markt ist damit nichts gesagt - zumindest vor dem traditionellen Literaturmarkt und den ihm verbundenen Institutionen (Wettbewerbe, Stipendien, Feuilleton, usw.). (Dass es daneben auch den Bereich des Self-Publishings gibt, der traditionell nicht anerkannt ist, aber ggf. eigene Formen der Anerkennung entwickelt, zeigt Amlinger in einem eigenen Kapitel.)

Fazit

Carolin Amlinger hat eines der interessantesten soziologischen Bücher der letzten Zeit geschrieben. Die zahlreichen Ungewissheiten unserer Gesellschaft, die bei den 'großen' deutschsprachigen Soziologen der letzten Jahre (etwa Hartmut Rosa / "Resonanz"; Andreas Reckwitz / "Die Gesellschaft der Singularitäten"; Armin Nassehi / "Muster" und "Unbehagen") immer etwas abstrakt bleiben, werden durch Amlingers umfassende qualitative Untersuchung eines Teilsystems sehr konkret — eines Teilsystems zumal, zu dem viele von uns direkten Bezug haben, als Leser:in, als Fan, als Literaturwissenschaftler:in, und vielleicht selbst als Schreibende:r.

 

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