ÜBERSTROM

Buch-Rezension

"Die neue Einsamkeit": Führt das Ausleben unserer Individualität zukünftig auch zu mehr Isolation?

von Uta Buttkewitz

09.07.2021

In ihrem Buch holen Diana Kinnert und Marc Bielefeld das Thema "Einsamkeit" aus der kommunikativen Tabuzone - was zwar noch keine Lösung ist, aber ein wichtiger Schritt.

Fünf Papierfiguren, die sich an den Händen halten

In den letzten Monaten habe ich einige Interviews der jungen CDU-Politikerin Diana Kinnert gesehen, die mich sehr beeindruckt haben, weil es sich hier um eine Politikerin handelt, die in einem völlig anderen Sound als andere Politiker:innen spricht und dazu noch Inhalte vertritt, die man selten aus der CDU hört. Obwohl ich keine Nähe zu der Partei verspüre, begeistert mich die junge unkonventionelle Diana Kinnert, die als Markenzeichen einen Cowboyhut trägt und die ansonsten auch eine sehr lässige Erscheinung ist.

Was mir besonders an ihrem (zusammen mit Marc Bielefeld verfassten) Buch "Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können" gefällt, ist die Tatsache, dass darin keine üblichen politischen Phrasen gedroschen werden, sondern Kinnert in ihrer Gesellschaftsanalyse und beim Beschreiben des Phänomens "Einsamkeit" vom Menschen und seinen Emotionen ausgeht, was in der Politik und auch in gesellschaftlichen Debatten meistens zu kurz kommt. Sie versucht sich auf knapp 500 Seiten der Frage zu nähern, warum die Vereinzelung innerhalb der Gesellschaft, das Gefühl der Einsamkeit und der Bedarf an psychologischer Therapie besonders bei jüngeren Leuten zunehmen. Dabei kommt sie zu dem originellen Ergebnis:

"Der Mainstream ist in tausend Subkulturen zerfasert - und diese tausend Subkulturen sind gerade dabei, zum Mainstream zu werden"

Sie bezeichnet unsere Gesellschaft als "überindividualisiert", da jeder Mensch sein eigenes Leben heutzutage ganz individuell kreieren und gestalten kann - zunehmend unabhängig von Geschlechterzugehörigkeit, sozialen Schichten und tradierten Normen. Diese durchaus positiv zu bewertende Entwicklung hat aber auch eine negative Seite.

Ähnlich wie der Philosoph Byung-Chul Han stellt auch Kinnert fest, dass der moderne Mensch im digitalen Zeitalter die Lust auf Spiritualität, auf das Rätselhafte und auf die Frage nach dem Sinn des Lebens verloren hat. Das Smartphone produziere die "maximale Unverbundenheit durch maximale Absorbiertheit".

Die scheinbare digitale Revolution befördert die Arroganz, Selbstherrlichkeit und Überzeugtheit der Jetztmenschen, in einem Zeitenumbruch zu leben, so wie keine Generation vor uns. Dabei ist diese Annahme wissenschaftlich betrachtet absoluter Nonsens und dazu noch völlig unlogisch, denn wir kennen nun einmal nur unsere Jetztzeit und können uns in das Lebensgefühl der späteren und früheren menschlichen Generationen überhaupt nicht hineinversetzen.

Wie viele andere Autor:innen, die in den letzten Jahren Bücher zum digitalen Zeitalter geschrieben haben, analysiert Diana Kinnert, dass das Smartphone und die sozialen Medien das Unverbindliche, Oberflächliche und Flüchtige befördern. Das ist erst einmal kein neuer Befund. Neu ist jedoch, dass hier eine junge Politikerin und Publizistin in einer unprätentiösen, authentischen Art und Weise und in einer direkten Sprache den aus dem Ruder gelaufenen Kapitalismus anprangert:

"Und darum würde ich heute, nach allen Betrachtungen und Überlegungen, ganz besonders die Jugend mit Nachdruck und Überzeugung dazu auffordern, dem verlogenen Schein- und Community-Kapitalismus zu sagen: fuck you. Ich würde einfach wieder siezen."

Das ist eine herrlich erfrischende Sprache und tut gut. Die Autorin folgt dabei der Analyse des Soziologen Richard Sennett, der die Jugend dazu aufgefordert hat, sich einfach nicht auf den ausufernden Neoliberalismus einzulassen - das erinnert an das berühmte Zitat aus einem Gedicht von Carl Sandburg: "Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin."

Raus aus der kommunikativen Tabuzone

Der zweite Teil des Buches verliert sich teilweise zu sehr im Allgemeinen, was bei dem Thema nicht ausbleibt, da das Gefühl der Einsamkeit ein sehr subjektives ist und auch per se nicht unbedingt negativ sein muss. Kinnert unterscheidet in ihrem Buch die emotionale, soziale und kollektive Einsamkeit. Und sie macht deutlich, dass das Gefühl des unfreiwilligen Ausgeschlossenseins aus Gemeinschaften eines der traumatischsten Erlebnisse ist, die ein Mensch erfahren kann. Es reiche nicht aus, einfach nur physische oder virtuelle Orte der Begegnung zu schaffen (wie zum Beispiel Mehrgenerationenhäuser), um der Vereinzelung entgegenzuwirken, so die Autorin. Notwendig sei es, eine tiefere Verbundenheit der Menschen untereinander zu fördern, zum Beispiel durch "neue Modelle der ökonomischen Partizipation".

Auch wenn Kinnert am Ende des Buches keine Lösung des Problems präsentiert und dieses auch gar nicht möglich ist - ist es auf jeden Fall ein großes Verdienst, das Thema aus der kommunikativen Tabuzone herausgeholt zu haben, da es mit sehr viel Scham belegt ist und sicher viel mehr Menschen unter Einsamkeit leiden, als nur diejenigen, die den Mut haben, darüber zu reden.

Die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie haben einen kleinen Ausblick darauf gegeben, wie es sich anfühlt, wenn die digitale Kommunikation im Privaten und im Beruf weiter zunimmt. Eine gesellschaftliche, interdisziplinäre Debatte darüber, wieviel digitale Kommunikation den Menschen und uns als Gesellschaft guttut, wäre wünschenswert. Wenn wir zum Beispiel berufliche und private Reisen aus ökonomischen und ökologischen Gründen einschränken, bedeutet das im gleichen Atemzug weniger persönliche, soziale Kontakte und weniger Möglichkeiten, neue Menschen kennenzulernen - denn das funktioniert nur persönlich.

Möchten wir das? Und wie lassen sich Klimaschutz, soziale Nähe und funktionierende Zusammenarbeit miteinander verbinden? Mobiles Arbeiten führt unter Umständen zu weniger körperlicher Bewegung und ebenfalls zu weniger persönlichen Gesprächen mit Kolleg:innen. Ist das für ein gutes Miteinander und das gegenseitige Verständnis wirklich förderlich, wenn man nur noch am Rande erfährt und spürt, woran die Kolleg*innen gerade arbeiten oder was sie umtreibt? Und droht nicht das Gemeinschaftsgefühl verloren zu gehen, wenn sich die Individuen mit ihren Familien oder Freundeskreisen immer mehr in ihrer eigenen privaten Blase befinden, die für andere kaum mehr sichtbar und zugänglich ist?

Das sind meines Erachtens wichtige Fragen, die wir diskutieren sollten. Die rasend schnell gewordene Kommunikation und der Überstrom an Nachrichten, der uns täglich überflutet, lässt Erinnerungen an vergangene Ereignisse immer schneller verschwinden bzw. verblassen, so dass wir uns immer weniger Zeit dafür nehmen, neue Arbeitsprozesse, Verhaltensweisen und Routinen, die durch die Digitalisierung geprägt sind, mit der Vergangenheit zu vergleichen und auf ihre Tauglichkeit und Sinnhaftigkeit zu bewerten.

 

Titelbild: designerspics.com / Jeshu John

 

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