ÜBERSTROM

Raumfahrt

Artemis und die Menschen auf dem Mond

von Mario Donick

16.11.2022

Die NASA hat das Artemis-Programm gestartet, mit dem in wenigen Jahren wieder Menschen zum Mond fliegen sollen. Dabei könnte man auch einfach mal hinnehmen, dass Menschen Grenzen haben und nicht alles ausbeuten müssen.

Schaulustige beobachten aus der Ferne den Start der Artemis-1-Rakete

Nach zwei abgebrochenen Startversuchen im August und September 2022 hat die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA heute erfolgreich das sogenannte Space Launch System (SLS) mit der Mission "Artemis I" gestartet. Die Rakete, die in Teilen auf alter Space-Shuttle-Technologie beruht, bringt die Raumkapsel "Orion" ins All, die den Mond umkreisen und anschließend zurückkehren wird. Menschen sind bei dieser ersten Phase des Artemis-Programms noch nicht an Bord. Doch schon beim dritten Start mit "Artemis III" sollen wieder Menschen auf dem Mond landen - zuletzt war das 1972 der Fall, im "Apollo"-Programm. Schon 2025 soll es soweit sein - der sportliche Zeitplan kommt noch aus der Ära Donald Trump. Anders als bei "Apollo" soll diesmal auch eine Frau dabei sein.

Für das Artemis-Programm kooperiert die NASA mit anderen Raumfahrtbehörden, u.a. der europäischen ESA und der japanischen JAXA. Auch Elon Musks privates Raumfahrtunternehmen SpaceX, das bereits regelmäßige Flüge zur Internationalen Raumstation (ISS) durchführt, ist mit dem Frachtransporter DragonXL sowie der riesigen Rakete Starship dabei; deren Variante Starship HLS soll als Landemodul für die Mondlandung eingesetzt werden. Eine "Gateway" genannte kleine Raumstation im Mondorbit soll zudem als Zwischenstation für Crew und Fracht dienen.

Sinnfragen

Das ist alles sehr ambitioniert und durchaus faszinierend. Der Autor dieses Texts ist eigentlich Raumfahrt-Fan und hat viele glückliche Fernsehstunden mit Captain Picard auf der Enterprise verbracht, aber das Artemis-Programm wirft Fragen auf. Von Kritik an der Gestaltung und Umsetzung des Konzepts einmal abgesehen (warum gerade zum Mond? Wozu die Gateway-Station?), steht vor allem die Sinnhaftigkeit des Programms insgesamt im Zweifel.

Angesichts der Klimakrise, des Artensterbens, neuer Imperialismen wie dem Krieg Russlands gegen die Ukraine oder einem möglichen Krieg Chinas gegen Taiwan, zahlloser anderer Konflikte weltweit, ökonomischer und wirtschaftlicher Ungleichheiten, strukturellem Rassismus und Sexismus, sowie religiösem Hass liegt die bekannte Mahnung nahe, doch erstmal die Probleme auf der Erde zu lösen - anstatt darauf hinzuarbeiten, dass wenige Privilegierte ihre Privilegien durch die Ausbeutung des Alls noch weiter ausbauen oder gar eine von Menschen zerstörte Erde womöglich verlassen können, um ein trauriges Dasein etwa auf dem lebensfeindlichen Mars zu führen (die Besiedlung des Mars ist immerhin ein Langzeitziel des neuen Twitter-Herrschers Elon Musk).

In einem ZEIT-Kommentar1 versucht Robert Gast, das Artemis-Programm gegen Vorwürfe zu verteidigen. "Wenn wir das schaffen, schaffen wir alles", lautet die optimistische Überschrift. Raumfahrt verspreche nicht nur neue Technologien, die Probleme auf der Erde zu lösen helfe (von schnellerem Internet bis zu Solarkraftwerken im All). Anders als im Apollo-Programm des 20. Jahrhunderts gehe es heute sowieso nicht so sehr um Technik. Vielmehr böte die Raumfahrt "[e]ine außerweltliche Perspektive, die inspirieren kann, erst recht in Zeiten der Krise." Insbesondere die staatlichen Weltraumorganisationen wie NASA und ESA würden dank sinnvoller Forschungsinteressen der Menschheit eine "gesunde Portion Demut im oft selbstbezogenen Alltag" vermitteln. Die Welt brauche "Mut und Zuversicht", und beides könne durch den Erfolg des Artemis-Programms erzeugt werden.

Mut und Zuversicht durch Weltraumfahrt, das klingt gut, das würde ich eigentlich sofort unterschreiben, wenn es denn nicht eine sehr privilegierte Ansicht wäre. Der Luxus, sich mit Grundlagenforschung im All zu befassen, lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man selbst keinen Existenzängsten gegenübersteht und die aktuellen Krisen als noch in ausreichend Ferne liegende Abstrakta begreift - in der Zukunft oder weit weg in anderen Regionen der Erde. Doch Klimawandel, Artensterben, neuer Imperialismus & Co. brauchen mehr als die von Gast aufgerufene "Erinnerung daran, dass das Universum nicht nur aus schlechten Nachrichten besteht".

Wachstums-Ideal im All

Gast hat damit Recht, dass eine außerweltliche Perspektive auf die Erde helfen kann, Demut zu empfinden. Der sogenannte Overview-Effekt2 ist gut dokumentiert, auch wenn den beileibe nicht alle Raumfahrer:innen erlebt haben. Aber ja, die Erde als Ganzes zu sehen, sich ihrer Verletzlichkeit bewusst zu werden und angesichts der Verlorenheit der Erde in einem riesigen, in seiner Weite letztlich unerreichbaren, All zu erkennen, dass ein Großteil unserer Alltagsprobleme und der politischen Streitigkeiten vollkommen lächerlich sind, würde wohl allen Menschen einmal gut tun. Aber dafür braucht es kein Artemis-Programm.

Reisen zum Mond und auch zum Mars sind natürlich für bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen interessant, aber im Vordergrund der aktuellen Aktivitäten unter privatwirtschaftlicher Beteiligung dürfte langfristig doch die Ausbeutung von Ressourcen stehen. 'Der' Mensch als 'Entdecker' und 'Eroberer' - die Flagge im staubigen Sand, und dahinter kommen die Fabrikbesitzer. Der Science-Fiction-Autor Brian W. Aldiss (1925-2017) veröffentlichte 1999 den etwas sperrigen Roman "Weißer Mars" ("White Mars or, The Mind Set Free"). Als Kontrapunkt zu Kim Stanley Robinsons Terraforming-Trilogie ("Roter Mars", "Grüner Mars", "Blauer Mars") wollte Aldiss darauf hinzuweisen, dass der Mars wie die (wegen des Eises weiße) Antarktis neutrales Territorium sein sollte, das niemand je ausbeuten dürfe.

Aber genau das wird passieren, wenn Raumfahrt durch Privatunternehmen dominiert wird und staatliche Raumfahrtorganisationen von diesen abhängig sind, wie aktuell die NASA von Elon Musks Firma SpaceX. Primär dient die Ausweitung solcher Art von Raumfahrt sowie die Errichtung von Außenposten auf Mond oder Mars durch solche Projekte dem Wachstum kapitalistischer Gesellschaften und libertärer Unternehmensbesitzer. Programme wie Artemis, in denen diesen Unternehmen eine tragende Rolle zugedacht ist, sind daher gerade kein geeignetes Projekt, der Menschheit zu Demut angesichts ihrer eigenen Rolle im Universum zu verhelfen. Im Gegenteil setzen sie das alte Paradigma: "macht euch die Erde untertan" fort.

Demut vermitteln

Viel besser geeignet, Demut oder so etwas wie den Overview-Effekt auch bei Laien zu erzeugen, sind die Forschungsergebnisse, die automatisierte Raumfahrzeuge zur Erde senden, und die man durch geeignete audiovisuelle und interaktive Technologien erlebbar machen kann.

Wobei grundsätzlich auch etwas Fantasie ausreicht: Dass etwa die alten, 1977 gestarteten Voyager-Raumsonden bereits 2012 unser Sonnensystem verlassen haben und nach wie vor zumindest rudimentäre Daten Richtung Erde schicken, lässt mir immer noch Schauer über den Rücken laufen - so kleine, von Menschen gebaute Geräte so unvorstellbar weit weg, doch im kosmischen Maßstab nichtmal im Vorgarten angekommen. Für die Demut, die ich dabei empfinde, muss kein Mensch ins All reisen.

Die von zahlreichen Raumsonden, Rovern und mittlerweile auch einer kleinen Drohne (euphemistisch als Mars-Helikopter bezeichnet) aufgenommenen Fotos der toten Wüsten des Mars zeigen, welche Rolle der Rote Planet eigentlich für die Menschheit spielt. Der Mars ist weniger geeignetes Ziel für utopische (Aldiss) oder libertäre (Musk) Fantasien denn ein dunkler Spiegel, der als Warnung dienen sollte, die Erde nicht ebenso lebensfeindlich werden zu lassen. Die durchaus vorhandene Schönheit der Bilder bleibt davon unbenommen.

Schlicht beeindruckend sind auch die Bilder, die das im Dezember 2021 gestartete James-Webb-Weltraumteleskop seit Juli 2022 sendet. Das Teleskop ist am 1,5 Millionen Kilometer entfernten Lagrangepunkt L2 stationiert und macht dort atemberaubende, im Detailgrad bisher unerreichte Aufnahmen des tiefen Weltraums, mehr noch als die älteren Hubble-Aufnahmen, die selbst schon erstaunlich waren.

Das sind Beispiele für außerweltliche Perspektiven, die das Potenzial haben, wesentlich mehr Menschen zu erreichen und bleibenden Eindruck zu hinterlassen, als es das Artemis-Programm je schaffen kann. Bildungsprogramme für Schulen und Volkshochschulen, sowie Simulationen (z.B. "Space Engine") sind Möglichkeiten, Erkenntnisse automatisierter Weltraumforschung auf eindringliche, berührende Weise vielen Menschen zu vermitteln und so ein Bewusstsein für die zugleich privilegierte und gefährdete Position der Menschheit im All zu erzeugen - und so hoffentlich die intrinsische Bereitschaft, die Erde, ihre Natur, ihre Lebewesen zu schützen.

Denn anders als die Erde ist das All eben auch etwas, das wir nicht mit eigenen Händen anfassen können, oder wo wir auf natürliche Weise leben könnten, selbst wenn wir auf andere Planeten und Monde fliegen. Solche Reisen kann man als Science-Fiction-Fan faszinierend finden (tue ich nach wie vor). Aber man kann sie auch einfach mal hinnehmen, die eine wesentliche Erkenntnis: Menschen haben Grenzen.

Externe Links

1 Kommentar von Robert Gast bei ZEIT.de zur Artemis-Mission [Achtung: Dieser Link führt zur Website der ZEIT. Die Zeit nutzt verschiedene Dienstleistungen US-amerikanischer Anbieter, u.a. Facebook und Google. Daher kann beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite Ihre IP-Adresse in die USA übertragen werden. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

2 Wikipedia-Eintrag zum Overview-Effekt [Achtung: Dieser Link führt zur Enzyklopädie Wikipedia, die von der Wikimedia Foundation betrieben wird, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in den USA. Die Server von Wikimedia befinden sich in den USA, wodurch beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

 

Titelbild: NASA / Public Domain

 

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