Einer der häufigsten Kritikpunkte an Spielen sind die oft unnatürlichen Gesichter. Man sieht zwar, dass viel Aufwand in die Charaktergrafik gesteckt wurde, aber trotzdem merken wir, dass irgendetwas fehlt. Aber was? Es ist schwer, das Unbehagen auf den Punkt zu bringen, aber es fühlt sich im schlimmsten Fall abschreckend an – willkommen im "Uncanny Valley".
Mit dem Begriff ist das unheimliche Gefühl gemeint, das Menschen oft empfinden, wenn sie fast menschlich aussehende Objekte (oder Bilder davon) sehen. Es ist nicht einfach, Figuren zu gestalten, bei denen dieser Effekt nicht auftritt. Der in den letzten Jahren auch für KI-Technologien bekannt gewordene Grafikkarten-Hersteller Nvidia möchte das ändern. Dafür hat Nvidia im Januar auf der Consumer Electronics Show (CES 2025) in Las Vegas ein Werkzeug namens RTX Neural Faces vorgestellt.
In einem Demo-Video mit dem verheißungsvollen Titel "Crossing the Uncanny Valley" (zu Deutsch etwa: das Tal des Unheimlichen überschreiten) stellte Nvidia das Konzept vor.

(Bild: Nvidia, https://www.youtube.com/watch?v=KnozAHKTz9o) [Hinweis: Der Aufruf von YouTube überträgt Ihre IP-Adresse in die USA. Nicht anklicken, wenn Sie damit nicht einverstanden sind.]
Was ist das Uncanny Valley?
Die Uncanny-Valley-Hypothese wurde bereits in den 1970er Jahren vom japanischen Robotik-Forscher Masahiro Moti aufgestellt. Je menschenähnlicher zum Beispiel ein Roboter gestaltet sei, desto positiver würden Menschen zunächst darauf reagieren – aber nur bis zu dem Punkt, an dem der Roboter fast nicht mehr vom Menschen zu unterscheiden sei. Dann schlage die erst positive Reaktion in Ablehnung um.
Das fühle sich "uncanny", unheimlich an. Würde man die Reaktionen auf einem Graphen zeichnen, dann würde die Kurve zuerst ansteigen und dann plötzlich absacken – dieser Punkt würde wie ein Tal in der Kurve aussehen, darum "valley".
Es geht bei der Hypothese nicht um Kultur- oder Technikkritik, sondern rein um die Wahrnehmung solcher Objekte und Bilder. Da Darstellungen menschlicher Charaktere in Computerspielen ebenfalls immer realistischer werden, droht hier ebenfalls ein Uncanny-Valley-Effekt. Mit RTX Neural Faces möchte Nvidia das verhindern.
Was ist Nvidia RTX Neural Faces?
RTX Neural Faces gehört zu einer ganzen Palette neuer KI-Werkzeuge, die Nvidias in einem Blog-Eintrag vorstellt.1 Speziell für Gesichter denkt Nvidia an zwei Punkte:
Beleuchtung: Während Gebäude, Fahrzeuge und Waffen mittlerweile extrem fotorealistisch aussehen können, sind biologische Objekte wie die menschliche Haut schwerer darzustellen. Wenn wir bei Peinlichkeit oder in Wut im Gesicht erröten, dann liegt das an der Erweiterung der Blutgefäße der Haut und der stärkeren Durchblutung – mit Computergrafik ist so etwas nicht so leicht umzusetzen.
Gesichtsausdrücke: Figuren in digitalen Spielen sehen vor allem dann uncanny aus, weil ihrer Mimik etwas fehlt. Zum Beispiel wirkt der Blick der Figuren oft seltsam leer oder der Blick passt nicht zum Rest der Mimik. Im Spiel Starfield (2023) etwa wirken Figuren in Nahaufnahmen dadurch öfter puppenhaft und wächsern. Auch solche Probleme sollen dank KI-Modellen nicht mehr auftreten.

Nvidias KI soll die genannten Probleme verbessern. Dazu wird sie mit unterschiedlichen emotionalen Gesichtsausdrücken trainiert, um Figuren glaubhafte Mimiken, Hautbilder und Beleuchtungseffekte zu verleihen.
Im Vorher-Nachher-Vergleich des Demo-Videos sieht das so aus:

So technisch beeindruckend das ist – die beiden Gesichter lassen mich etwas ratlos zurück. Der KI-Konzern hat offenbar völlig andere Vorstellungen von einem natürlichen menschlichen Aussehen als ich. Und mehr noch: Das RTX-Gesicht zeigt überhaupt nicht dieselbe Person! Oder wenn es dieselbe sein soll – dann hat sie sich offenbar umfangreichen Schönheitsoperationen unterzogen und war danach beim Make-up-Artist.
Nvidias Male Gaze
Wenn man wie im Bild oben beide Gesichter nebeneinander liegt (statt sie wie in dem schnell geschnittenen Video nur kurz nacheinander sieht), erkennt man, dass außer der Beleuchtung und der Haut auch Teile des Gesichts selbst verändert wurden. Die Lippen sind hinterher geschwungener, die Nasenflügel symmetrischer. Augenform und -farbe wurden verändert. Augenbrauen und Wimpern wurden begradigt und gezupft.
Und der Gesichtsausdruck? Die erste Person ist ihrer Umgebung zugewandt, ihr Blick wirkt an etwas interessiert. Sie wirkt auf mich ein wenig verwundert, hat den Mund erkennbar geöffnet und macht mich gerade dadurch neugierig – was sieht sie da wohl gerade in der Spielwelt? Die zweite Person hingegen entspricht zwar stärker gängigen Schönheitsidealen und ist technisch vielleicht etwas perfekter, sie sieht dabei aber sehr desinteressiert aus. Dass ihr Mund geöffnet ist, ist kaum noch erkennbar, und passiv ruht ihr Schlafzimmerblick im Nichts.
Zumindest das Demo-Video erweckt den Eindruck, dass Nvidia weibliche Spielfiguren als unheimlich, "uncanny" ansieht, wenn diese Figuren sich ihrer Umwelt aktiv zuwenden statt nur passiv im Hintergrund zu stehen, und wenn sie nicht möglichst weiche, perfekt symmetrische, mit Make-up betonte Gesichtszüge haben. Das ist eine Form des althergebrachten männlichen Blicks (male gaze).
Im Body-Horror-Film The Substance (2024) wurde dieser Blick erst vor kurzem herrlich überspitzt und dadurch kritisiert: Sue (Margaret Qualley) ist die jüngere, 'bessere' Version des Hollywood-Stars Elisabeth (Demi Moore). Elisabeth, die zu Beginn des Films doch alle Merkmale von Normschönheit übererfüllt, ist den sabbernden alten Managern des Fernsehstudios zu alt. Da reicht nicht nur eine Überarbeitung in Form der einen oder anderen Schönheits-OP, nein, es muss gleich eine komplett neue Version her, die aus Elisabeths Rücken schlüpft und mit dem Original nichts mehr zu tun hat (Wiebke Schwelgengräber hat den Film kürzlich einer sehr schönen Analyse unterzogen).
Jedenfalls tut Nvidia in dem Demo-Video zu RTX Neural Faces nichts anderes als das, wofür The Substance den Male Gaze kritisiert hat: Ein natürlicheres Aussehen wird durch ein künstlicheres ersetzt, weil der natürlichere Look offenbar stört. Natürlichkeit ist uncanny. Bei RTX Neural Faces schlägt sich der male gaze in KI-Trainingsdaten nieder, mit denen sich dann eben nur Normschönheit reproduzieren lässt, zumindest, soweit das Demo-Video es vermittelt.
Normschön zieht der Gamer™ ins Abenteuer
So, wie es bis jetzt präsentiert wurde, ist RTX Neural Faces ein Symptom einer Gesellschaft, die das Einhalten von Schönheitsidealen als Wert an sich ansieht. Seit Jahrzehnten werden wir in Film, Fernsehen und Werbung darauf trainiert. Als Mangel empfundene Merkmale werden versteckt oder wegoperiert. Nvidia geht einen weiteren Schritt auf diesem ausgetreteten Pfad.
Das ist genau das falsche Signal. Ein nicht kleiner Teil der männlichen Spielerschaft regt sich ohnehin schon regelmäßig auf, wenn weibliche Charaktere in Spielen nur minimal von Schönheitsidealen abweichen. In Forenthreads, Redditbeiträgen und YouTube-Videos jammert der in seinem Anspruchsdenken verletzte Gamer™ dann über angeblich 'hässliche' und 'zu maskuline' Frauen in Videospielen.
Beispiele der letzten Jahre waren die Figuren Abby aus The Last of Us 2 und Kassandra aus Assassin's Creed Odyssey – nebenbei bemerkt eine ganz unverständliche Kritik, handelt es sich doch bei beiden um sehr normschöne Frauenfiguren.
Ein ganz aktuelles Beispiel ist die Figur Angela aus dem Remake des Horror-Adventures Silent Hill 2. Zwischen einem Trailer im Frühling 2024 und der Veröffentlichung im Herbst 2024 wurde das Gesicht dieser Figur nach teils sehr hämischer Kritik noch einmal überarbeitet. In der Release-Fassung wirkt es jünger und etwas schmaler; die Haare wurden etwas aufgehellt; die Augen wurden verändert, und die Augenbrauen wirken etwas weniger dicht.


Zumindest dem Demo-Video nach denkt Nvidia in genau dieselbe Richtung. Das "verbesserte" Gesicht aus dem Video spiegelt einen gesellschaftlichen Status Quo wider, über den wir langsam mal hinwegkommen sollten. Doch stattdessen fördert Nvidia ihn noch und vermittelt Spieler*innen die Botschaft, dass Menschen möglichst perfekt Schönheitsidealen entsprechen sollten.
Hübsch langweilig
Entwickler*innen scheint das neue Werkzeug es zu leicht zu machen, der immer wieder geäußerten Erwartung an die Erfüllung von Normschönheit nachzugeben. Und die Führungsetagen von Spiele-Studios und -Publishern, denen vor allem die Vorstellung zu geringer Verkäufe 'uncanny' ist, mag Nvidias Tool dazu verführen, bald standardmäßig eine Runde KI-Optimierung zu verlangen.
Einzelnen Versuchen der letzten Jahre, in Spielen realistischere Figuren darzustellen - Abby, Kassandra, Angela -, kommt das nicht gerade entgegen. Dabei sind in Spielen mehr 'normale' Leute wünschenswert, nicht weniger. Lebendige Charaktere in all ihrer Verschiedenheit. Menschen, denen wir auch auf der Straße oder im Supermarkt nach einem anstrengenden Arbeitstag begegnen würden, die aber im Spiel in abenteuerliche Situationen - sozusagen in unerhörte Begebenheiten - geworfen werden.
Doch statt Charakteren, mit denen sich auch Menschen außerhalb enger Gamer™-Kreise identifizieren können, wird es mit Nvidia RTX Neural Faces noch mehr künstliche Figuren geben – alle sehr hübsch, sehr normschön, doch uninteressant, austauschbar und gerade dadurch unheimlicher als zuvor.
Externe Links
1 https://developer.nvidia.com/blog/nvidia-rtx-neural-rendering-introduces-next-era-of-ai-powered-graphics-innovation/ Hinweis: Beim Anklicken externer Links kann es sein, dass Ihre IP-Adresse in Drittstaaten außerhalb der EU übertragen wird. Klicken Sie die Links nur an, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind. / Zurück zum Artikel
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