Gare d'Europa -- dieser "europäische Bahnhof" hat nie existiert, und doch ist dieser Ort noch immer eingebrannt in mein persönliches popkulturelles Gedächtnis. "Gare d'Europa" -- der Klang dieser Worte übte 1996 mindestens eine genauso große Faszination auf mich aus wie das, was damit bezeichnet wurde. Gare d'Europa war eine Strecke in dem futuristischen Rennspiel wipEout 2097 (Titelbild) auf der ersten Sony PlayStation, die übrigens genau heute, am 3. Dezember 1994, herauskam.
In schwebenden Antigrav-Gleitern ging es zu zeitgenössischer elektronischer Musik über halsbrecherische Strecken. Gare d'Europa sollte eine stillgelegte französische Metrolinie darstellen -- nachts, bei Gewitter, mal dunkel und mal neonhell, und am Horizont zeigte die Skybox nächtlich erleuchtete Hochhäuser.
Mit den Luftbremsen des Gleiters slidete man in wahnsinniger Geschwindigkeit elegant um enge Kurven. Jedenfalls im Idealfall; ich schrammte eher mit einem kratzend-schmirgelnden Geräusch an den Wänden entlang oder knallte frontal dagegen. Mit aufgesammelten Waffen hielt man sich Gegner vom Hals oder nahm sie gleich ganz aus dem Rennen -- "Contender Eliminated" bestätigte eine kalte Computerstimme, wenn ein Teilnehmer vernichtet wurde.
Die perfekte Symbiose aus Popkultur und Kommerz
wipEout 2097 war bereits der zweite Teil der Serie, doch schon ein Jahr zuvor gingen Spielgefühl, Streckengestaltung und Musik eine fast perfekte Symbiose ein. Die Serie des früheren britischen Entwicklerstudios Psygnosis aus Liverpool steht aber auch für ein anderes, im Laufe der Jahre immer effektiveres Zusammenspiel: das von Kultur und Kommerz.
wipEout wurde von Anfang an für eine etwas ältere, ausgehfreudige Zielgruppe entwickelt und das Marketing passte sich dem an. Das Spiel hatte seinen ersten Auftritt im Kinofilm "Hackers" (1995) und weckte so bereits vor der Veröffentlichung das Interesse potenzieller Spieler*innen. In dem Film gehen jugendliche Computerhacker gegen den korrupten Sicherheitschef eines Mineralölkonzerns vor; wipEout wird von ihnen in einem Club gespielt.
Auch Printwerbung setzte auf das Klischee jugendlicher Rebellion und Coolness. Auf Werbeanzeigen war Sara Cox von BBC Radio 1 zu sehen, die sich mal blutverschmiert, mal etwas weggetreten von einer wipEout-Session erholte. Schriftzüge wie "A Dangerous Game" und "extreme g-force" ordneten das Bild ein. Die Anzeige ließ besorgte Menschen, etwa die Redaktion der britischen Boulevard-Zeitung The Sun, fürchten, das Spiel würde Drogenkonsum fördern.1
Mit der Gestaltung von Typographie und Ikonographie wurde das Sheffielder Studio The Designers Republic beauftragt, die bereits von ihrer Arbeit für Technolabels bekannt waren. "tDR" entwickelte den Schriftzug des ersten Spiels mit dem großgeschriebenen "E", entwarf Logos für die verschiedenen Rennteams und war auch für den generellen grafischen Stil von User Interface, Verpackungsdesign und Handbuch verantwortlich. Von Beginn an war die Designerin Nicky Place an den Spielen beteiligt; bei Teil 2 und 3 der Serie (wipEout 2097 und wip3out) fungierte sie als Art Director.
Neben Werbung und Design war schließlich die Musik wichtig. Der Soundtrack der Reihe bestand aus Tracks vieler bekannter Künstler, unter anderem The Chemical Brothers, Underworld, The Prodigy, Leftfield und Future Sound of London. Selbstredend waren auch separate Soundtrack-Alben erhältlich. Umgekehrt konnten nächtliche Partygänger*innen, wie im erwähnten "Hackers"-Film, in manchen britischen Clubs wipEout spielen.
Film, Werbung, Design und Musik verbanden wipEout mit der Mitte bis Ende der 1990er herrschenden Techno- und Jugendkultur. Dies war ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Spiels -- und für den Erfolg von Sonys PlayStation bei einer älteren Zielgruppe. Sony nutzte wipEout dafür, die PlayStation von den eher an Kinder gerichteten Konsolen der Konkurrenten Nintendo und Sega abzugrenzen.
Duncan Harris: "wipEout: Futurism. The Graphic Archives"
In seinem Buch "wipEout: Futurism. The Graphic Archives" (Thames & Hudson, London 2024) zeichnet Duncan Harris die Entwicklung der wipEout-Serie nach. Der großformatige Band vereint auf über 300 Hochglanzseiten Retrospektiven, Interviews, Screenshots und vor allem sehr viele grafische Entwürfe.
Neben Skizzen zu Spielszenen, Entwürfen von User Interfaces und großformatigen, oft doppelseitig gedruckten Artworks sind vor allem die zahlreiche Beispiele für Logodesign und Typographie interessant. wipEout war nicht nur selbst eine Marke (dessen großgeschriebenes E in der Wortmarke unverkennbar wurde). Auch die fiktionalen Ligen und Rennteams von wipEouts Science-Fiction-Welt waren Marken, die ein eigenes Design benötigten.
Interessant ist dabei, wie sich diese Gestaltung im Laufe der Jahre veränderte. Den ersten großen Designbruch vollzogen The Designers Republic noch selbst. Für wipEout 3 (auch: wip3out), den 1999 erschienenen dritten Serienteil, wurde ein komplett neues und überaus cleanes Design entwickelt. Statt der knalligen Farben und abgerundeten Schriften der ersten zwei Teile bestanden Titelbildschirm und Menüs jetzt aus einem schlichten grauen Hintergrund. Darauf wurden zwei Schriftarten kombiniert. Die eine war groß, kantig, futuristisch und auf den Grundformen Rechteck und Dreiecks aufgebaut; die andere war ein schlichter serifenloser Font.
Den zweiten Bruch gab es mit dem Wechsel auf die PlayStation 2. Das längst zu Sony gehörende Entwicklungsstudio Psygnosis wurde in SCE Studio Liverpool umbenannt und The Designers Republic, die so maßgeblich für Gestaltung und Erfolg der wipEout-Serie waren, wurden von Sony nicht einfach weiterverpflichtet. Stattdessen sollte sich das Studio bei Sony bewerben, den geplanten neuen Serienteil wipEout Fusion gestalten zu dürfen -- sie lehnten dankend ab, wie wir nicht nur aus Harris' Buch erfahren, sondern auch von der tDR-Website: "No thank you. Mission complete. Game over."2
Das Versprechen von Freiheit
Als jugendlicher Spieler machte ich mir über all diese Dinge keine Gedanken. Was ich aber ahnte (oder zu ahnen glaubte, oder rückblickend glaube, geahnt zu haben), war, dass die ersten drei wipEout-Spiele für jene Art unbeschwerter Freiheit standen, die sich im Europa der Neunziger auch mit seiner fröhlich-bunten Technokultur ausdrückte. Die Mauer war gefallen, der Kalte Krieg war vorbei, Berlin wahnsinnig spannend, der Osten wurde entdeckt.
Der eingangs erwähnte Gare d'Europa in Frankreich, die ukrainische Rennstrecke Odessa Keys und das umfunktionierte russische Industriegebiet Korodera standen für ein grenzenloses, weites Europa, in dem Nationalstaaten kaum noch Bedeutung hatten. Wichtiger waren die Teams mit ihren verschiedenen Identitäten, die sich in Design und Fahrgefühl ausdrückten, während die Musik alle anderen Unterschiede überwand. Das fühlte sich vage gut an, und die Red Bull-Werbung in wipEout 2097 irritierte mich nur ein bisschen.
Duncan Harris' Buch ist natürlich auch ein Weg, dieses angenehme Gefühl von damals wiederaufleben zu lassen. Oder wahlweise in Wehmut zu verfallen, angesichts des rückwärtsgewandten, zunehmend nationalistischen Zustands, in dem sich die Welt allgemein und Europa im Speziellen mittlerweile wieder befinden. Harris bedient primär das Retro-Interesse. Die Bilder und Essays in dem Buch verlassen diese Ebene nur selten. Harris geht nur wenig auf kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge ein, fragt etwa nicht, welches Zukunftsbild die Reihe vermittelte (dabei heißt das Buch ja "wipEout: Futurism", was man nicht nur grafisch oder als Stilfrage verstehen sollte). Die oben skizzierte Verbindung von Kultur und Kommerz wird kaum hinterfragt.
Ein Buch wie das Spiel
"wipEout: Futurism" ist einerseits ein tolles, schönes Buch. Es handelt primär von der Entwicklung der Spiele und eignet sich hervorragend, die Markenbildung der ersten Jahre unter der Designers Republic nachzuvollziehen (für die Zeit danach sind nur noch große Artworks und Screenshots versammelt, aber keine Entwürfe mehr). Dies allein ist schon faszinierend und wer an solchen Themen nur etwas Freude hat, wird nicht enttäuscht sein.
Andererseits wünscht man sich stellenweise, Harris wäre etwas mehr in die Tiefe gegangen. Wenn im Buch Kritik anklingt, dann geht es um den Umgang Sonys mit den Studios Psygnosis und The Designers Republic, sowie um einzelne, missglücktere Serienteile (wie den ersten Playstation-2-Teil wipEout Fusion). Mitunter hat das Vibes von "hier die coolen britischen Designer aus Liverpool und Sheffield -- dort der böse globale Megakonzern, der alles kaputtmacht".
Wirklich überraschend ist das nun nicht. Die Serie wipEout war von Anfang an ein Produkt, das auf maximalen kommerziellen Erfolg ausgelegt war. Es hatte das Glück, dass die Spielmechanik hielt, was die Werbung versprach: wipEout machte (und macht) tatsächlich sehr viel Spaß; es ist eingängig, ohne zu einfach zu sein; der Geschwindigkeitsrausch zur elektronischen Musik ist toll. Es ist auch interessant zu lesen, wie diese Spiele entstanden. Es wäre nur schön gewesen, wenn Harris diese bequeme Ebene öfter verlassen hätte.
Denn wenn man die geballte Markenmacht des wipEout-Universums durchblättert -- die echte wie die fiktionale --, wird deutlich: Obwohl es grafisch und musikalisch an die Technokultur andockte, war das Spiel kein Underground. Es stand nicht für eine Subkultur, und es war wohl viel weniger cool, als es damals auf mich als naiven Teenie wirkte. (Zugegeben, für die Musik selbst galt das auch, die Mitte bis Ende der Neunziger längst zum Mainstream gehörte. Die Prodigy-Single Firestarter, die Teil des wipEout 2097-Soundtracks war, konnte ich mir als Maxi-CD sogar im Kleinstadt-Elektroladen kaufen).
Der Designer Chris Kernaghan brachte die Funktion von wipEout gut auf den Punkt. In einem Artikel schrieb er 2023, dass sich das Spiel an jene "nine-to-fivers" richtete, "who moonlit as night-trippers".3 wipEout war also ein Spiel für Leute mit normalen Jobs, die sich abends und nachts vom öden Arbeitsalltag ausklinkten, ohne diesen aber je ernsthaft in Frage zu stellen.
Harris' Buch passt genau in diese Perspektive: Es ist visuell ansprechender und interessant geschriebener Retro-Eskapismus, der aber genau da stehenbleibt.
Externe Links
1 Kernaghan, Chris: Contender Eliminated: Deconstructing the Controversy Around THOSE Wipeout Ads, 12.12.2023 Der Autor zeigt und diskutiert in seinem Artikel die Anzeigen zu dem ersten wipEout-Teil. Hinweis: Beim Anklicken externer Links kann es sein, dass Ihre IP-Adresse in Drittstaaten außerhalb der EU übertragen wird. Klicken Sie die Links nur an, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind. / Zurück zum Artikel
2 The Designer's Republic: wipEout Hinweis: Beim Anklicken externer Links kann es sein, dass Ihre IP-Adresse in Drittstaaten außerhalb der EU übertragen wird. Klicken Sie die Links nur an, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind. / Zurück zum Artikel
3 Kernaghan 2023. / Zurück zum Artikel
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