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Ukraine-Krieg

"Weitergehen." Ein Jahr Leben mit dem Ukraine-Krieg. Interview mit Igor Kirilov

von Mario Donick

24.02.2023

Vor einem Jahr hat Russland seinen Nachbarstaat Ukraine überfallen. Es wurden Städte zerstört, zehntausende Menschen sind gestorben. Gleichzeitig gibt es immer noch eine Art Alltag. Darüber habe ich mit Igor Kirilov, 3D-Designer in Kyiv, gemailt.

Blau-gelber Blumenstrauß, abgelegt vor einer Gedenkmauer, am Ukrainischen Unabhängigkeitstag 2022

Igor Kirilov ist 3D-Designer und wie ich als Freelancer für vFlyteAir tätig, einem kleinen Entwicklungsstudio für Flugzeugmodelle, die man in Flugsimulationen wie X-Plane oder (bald) dem Microsoft Flight Simulator 2020 benutzen kann. Igor lebt in Kyiv, ich in Magdeburg und Rostock, ein weiterer Kollege in Großbritannien, und der Gründer des Unternehmens in den USA. Seit vielen Jahren arbeiten wir virtuell mal mehr, mal weniger eng zusammen.

Igor Kirilov
Igor Kirilov. Das Foto wurde im Juni 2022 in Kyiv aufgenommen, wo zerstörte russische Panzer ausgestellt waren.

Und dann kam der Krieg. Von seinem plötzlichen Ausbruch zu sprechen, wäre falsch, denn immerhin hatte Russland bereits 2014 die ukrainische Krim besetzt. Und es gab Wochen und Tage vorher bereits die schlimmsten Befürchtungen. Leider wurden sie am 24.03.2022 zur Gewissheit.

Der Krieg hat Igors Leben auf den Kopf gestellt und lässt auch kaum jemanden außerhalb der Ukraine kalt. Im Januar 2023 habe ich mich mit Igor mehrere Tage lang per E-Mail über das letzte Jahr ausgetauscht, über ein Leben zwischen dem Wunsch nach einem 'normalen' Alltag und der schrecklichen Realität.

Hinweis: Meine Fragen sind fett formatiert; einige persönliche Gedanken und ergänzende Anmerkungen zwischen den Frage-Antwort-Teilen sind kursiv gesetzt.

 

Ein Jahr Krieg

Heute (am Tag, wo ich dies schreibe) ist der 21. Januar 2023 - knapp elf Monate seit Kriegsbeginn. Der Angriff Russlands auf die Ukraine lag noch einen Monat in der Zukunft. Igor, wenn du ein Jahr zurückdenkst - was haben du und deine Familie am 21. Januar 2021 gemacht?

Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich an dem Tag gemacht habe, aber ich erinnere mich an den 27. Januar, als wir Bukowel besucht haben, ein ukrainisches Wintersport-Resort. Das waren glückliche Tage nach dem Neujahrsfest in Kyiv und zu der Zeit war der Skiurlaub dort auch preiswert: günstige Hotels und günstige Skipässe. Mein Sohn ist da das erste Mal selbst Ski gefahren - mit nur vier Jahren.

Eine Woche vorher haben wir wahrscheinlich ein bisschen geübt, auf den kleinen Hügeln in Kyiv. Mitte Januar war also eine glückliche Zeit für mich und meine Familie - wir haben die Olympischen Spiele in Peking geschaut, und uns nach dem Neujahrs- und Weihnachtsstress ausgeruht. Also ein normales Leben: Arbeit, Wochenende, Spielen mit meinem Sohn.

Was war das erste, was du gefühlt hast, als du gehört hast, dass Russland die ukrainische Grenze überschritten hat?

Nun, tatsächlich gab es dahingehend schon eine Art Erwartung, und die war eher bei meinen westlichen Freunden als bei mir. Mein Freund John aus den USA hat mich Anfang Februar drei Mal angerufen und mich vor einem zukünftigen Krieg gewarnt. Du hast mir auch über die Wahrscheinlichkeit des Kriegs geschrieben und wolltest wissen, was ich davon halte.

Mein Gefühl zu der Zeit (also ein bis zwei Wochen vor dem Krieg) war ziemlich übertrieben-selbstbewusst. Ich war sicher, dass es nur Gerüchte sind und dass Russland nur bluffen würde, um seine eigene Position in der internationalen Arena zu stärken. Die meisten russischen Politiker haben Grundbesitz und anderes Eigentum sowie Kinder im Westen - es ist also unmöglich, im 21. Jahrhundert einen neuen Krieg in Europa zu beginnen.

Aber am 24. Februar wachte ich von fernen Explosionsgeräuschen auf und erhielt sofort Anrufe von Freunden! Ich schaltete die Nachrichten ein … und das Schlimmste hatte begonnen … Mein erster Gedanke war, dass ein echter Krieg im 21. Jahrhundert in Europa so unmöglich war; dass der erste Angriff mit Cruise Missiles nur eine Machtdemonstration war, mehr nicht … nicht in der Art des Zweiten Weltkriegs.

Ich war so überzeugt dass es nur eine Machtdemonstration wäre, dass meine Frau sich entschloss, Kyiv am 24. nicht zu verlassen. Ich erwartete, dass Russland Verhandlungen fordern würde, ohne zu versuchen, Kyiv zu besetzen. Wir bereiteten also nur das Auto vor und luden Gepäck ein, sodass wir bei Bedarf innerhalb von fünf Minuten unser zu Hause verlassen könnten.

Am nächsten Tag rief mich ein Freund aus der Nähe von Irpin an und informierte uns, dass er russische Panzer auf den Straßen sah. Dann verließen wir unser zu Hause zunächst.

Einer der beeindruckendsten Momente direkt zu Beginn des Krieges war das Video des ukrainischen Präsidenten und seiner Mitarbeiter, das sie in der Nacht mit ihren Handys aufgenommen haben. Das strahlte viel Ruhe und Zuversicht aus. Seit damals hat Herr Selenskyj eine Menge weiterer teils beeindruckender Videos gemacht und Reden gehalten. Oft sind sie direkt an andere Staaten gerichtet, sie rufen zu Unterstützung auf und motivieren dazu. Er ist eindeutig der Sympathieträger in diesem Krieg und symbolisiert den Wunsch der Ukraine, Russlands Einmarsch zu bekämpfen, oft verglichen mit David gegen Goliath. Außerdem ist er noch relativ jung (nur 44 Jahre alt), womit es auch eine Art jung gegen alt ist. Wie ist dein Eindruck - wie bewerten die Ukrainer:innen selbst Selenskyj und seine Arbeit in der Ukraine?

Das ist eine sehr gute Frage! Dazu ist es wichtig zu wissen, dass es bisher nur einen einzigen Präsidenten in der Ukraine gab, der zwei Amtszeiten im Amt war. Das war Leonid Kutschma, der von 1992 bis 1993 Ministerpräsident und von 1994 bis 2005 Präsident war. Fast überall sind die Leute nicht zufrieden mit ihrer aktuellen Regierung und möchten immer mehr, und sind sich sicher, dass die jeweils aktuelle Regierung nicht die notwendigen Dinge macht. Ich war mir sicher, dass das auch mit Herrn Selenskyj so sein würde.

Seit jedoch der Krieg begonnen hat, bin ich mir sicher, dass Selenskyj alles richtig macht. Er hat Kyiv nicht verlassen. Er war bereit, in der Hauptstadt zu bleiben und zu kämpfen. Er inspiriert die Menschen in der Ukraine.

 

Ich lese Igors Antwort und mir fällt auf, dass auch hier eine Art Wechsel in der Beurteilung Selenskyjs mitschwingt, die schon in vielen Medienberichten auftauchte - als sei erst mit dem Krieg der Wechsel vom Schauspieler zum ernstzunehmenden Politiker vollzogen. Als Außenstehender und vom Krieg kaum Betroffener fällt es mir zugegeben schwer, diese Art von Gefühl nachzuvollziehen. Ohnehin regt sich in mir sofort Skepsis, wenn man eine Einzelperson als Kämpfer und Vorbild stilisiert. Erodieren da demokratische Prozesse nicht langsam, selbst, wenn die Akteur:innen es vielleicht gar nicht beabsichtigen?

 

Politik

Die Medien in Deutschland fokussieren sich vor allem auf den Krieg selbst, aber manchmal wird auch über allgemeinere politische Themen in Zusammenhang mit der Ukraine berichtet. Gestern [Mitte Januar] wurde die mögliche Korruption im ukrainischen Verteidigungsministerium bekannt. Vor einer Weile ging es um Einschränkungen des Gebrauchs der russischen Sprache, russischer Medien, Literatur, Musik usw. Vielleicht eine naive Frage, aber gibt es noch ein 'normales' politisches Leben mit parlamentarischen Debatten, Konflikten zwischen Parteien und so weiter, neben den Kriegsanstrengungen? Oder sind jede:r und jede Partei vereint, bis das aktuelle Problem gelöst / der Krieg beendet ist?

Die mögliche Korruption im Verteidigungsministerium ist ein großes Problem. Ich warte noch auf eine Reaktion durch Herrn Selenskyj und die Polizei. Ein System wird nicht charakterisiert durch die Unmöglichkeit von Fehlern, aber durch die Reaktion auf Fehler. Allgemein ist es sehr schlecht. Ich hoffe, die Antwort wird schnell, öffentlich und fair sein. Besonders schlimm ist, dass die ganze Welt sieht, dass Ukrainer:innen im Krieg von anderen Ukrainer:innen stehlen.

Natürlich hat Korruption in allen Kriegen der menschlichen Geschichte existiert. Ich kann sagen, ich habe das Gefühl, dass ich mittlerweile innerhalb der Romane von Erich Maria Remarque (meinem Lieblingsautor) lebe, insbesondere in "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" und "Im Westen nichts Neues". Er erwähnte die Korruption in der deutschen Armee.

Es ist jetzt sehr wichtig, dass der Welt gezeigt wird, dass die ukrainische Regierung solche Probleme lösen kann … Ein sehr gutes Zeichen ist, dass die Vorgänge öffentlich wurden, sodass wir die Chance auf offene und ehrliche Ermittlungen haben.

Was das 'normale' politische Leben angeht … da kann ich sagen, dass wir schon politischen Wettbewerb hatten. Es ist eine sehr komplexe und interessante Frage. Meiner Meinung nach haben ukrainische Politiker:innen verstanden, dass die Ukraine den Krieg dieses Jahr gewinnen wird und denken bereits an die nächsten Wahlen. Und ich bin mir sicher, dass auch in der Weltpolitik bereits eine Zukunft ohne "Vladolf" [gemeint ist Wladimir Putin] diskutiert wird … ähnlich wie bei der Yalta-Konferenz, auf der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Neuorganisation von Deutschland und Europa diskutiert wurde.

Foto des zerstörten Wohnhauses in Dnipro
Von Raketentreffern zerstörtes Wohnhaus in Dnipro (Bild: Staatlicher Dienst für Notfallsituationen, Ukraine / Wikipedia, CC BY 4.0)

Wie auch immer, ich möchte wieder und wieder betonen: Jeder Tag dieses Krieges kostet Leben! Jeder nächste Angriff mit Cruise Missiles durch die Russen ist eine Tragödie, wie gerade [14.01.2023] auf das Wohnhaus in Dnipro, während die Politiker:innen in ihren warmen Betten über alle Vor- und Nachteile nachdenken.

Gehen oder Bleiben?

Igor spricht hier ein Thema an, über das wir immer wieder während des letzten Jahres gemailt haben - wie sehr der Westen die Ukraine unterstützen muss, insbesondere mit schnellen Waffenlieferungen. Ich persönlich bin der Ansicht, dass Waffenlieferungen in der Situation richtig sind, verspüre darüber aber vor allem Traurigkeit. Und immer wieder kommt auch die Frage auf, was wir in Deutschland tun würden, wenn wir in der Situation der Ukraine wären:

 

Mein erster Gedanke damals zu Kriegsbeginn war: "Scheiße, wir müssen Igor und seine Familie retten, er muss so schnell wie möglich zu uns nach Deutschland kommen". Aber bis jetzt "gehst du weiter" in der Ukraine ["keep walking" ist der Betreff einer von Igors E-Mails]. War Flucht jemals eine realistische Möglichkeit für dich (einmal unabhängig von der Tatsache, dass Männer das Land jetzt ohnehin nicht verlassen dürfen), oder war es für dich und deine Frau immer klar, dass ihr bleiben wollt?

Das Innere eines Autos, auf der vollgepackten Rückbank, ein kleiner Junge schläft
Fahrt nach Truskawez, zu Kriegsbeginn 2022 (Bild: Igor Kirilov)

Glücklicherweise lebt die Familie meiner Frau in Truskawez, im westlichen Teil der Ukraine, nur ca. 60 km von Polen entfernt. Am 25. Februar hatten wir Kyiv erstmal verlassen. Ich blieb drei Tage in Truskawez und beschloss dann, nach Kyiv zurückzukehren. Zusammen mit einem Freund, der dieselbe Reise mit seiner Familie unternommen hatte, wollten wir nach Kyiv zurück, um unser zu Hause zu beschützen. Mein Freund ist jetzt in der Armee.

Es war klar, dass die russische Armee Kyiv nicht schnell einnehmen könnte. Sie hatten nicht genug Kräfte, um die Stadt zu umstellen. Egal ob in Kriegen im Mittelalter oder in der Moderne, es war fast immer unmöglich, eine Stadt ohne ihre Umgebung einzunehmen.

Es war natürlich ein großes Risiko, aber es gibt diese große Inspiriation, sogar diesen Ruf zur Pflicht ["Call of Duty"], wo du nicht an die Risiken für deine Familie denkst, sondern nur, dass du dein zu Hause und dein eigenes Land beschützen musst. Es erinnert mich an das historische Alamo in Texas, wo die Leute ihre Häuser beschützt haben, obwohl sie kaum eine Chance hatten, aber sie hatten auch keine Wahl. So ein Gefühl herrscht bei den Leuten in der Ukraine auch - dass wir unser Land retten müssen.

In Kyiv wurde ich Teil einer lokalen Verteidigungseinheit. Meine Frau beschloss, zusammen mit ihrer Mutter im Land zu bleiben, sie waren aber darauf vorbereitet, so schnell wie möglich nach Polen zu gehen, wenn es nötig werden sollte.

 

Als Igor mir das schreibt, erinnere auch mich wieder an diese ersten Tage - ich erinnere mich an das ständige besorgte Warten auf E-Mails von ihm, um uns - hoffentlich - zu versichern, dass es ihm und seiner Familie gut geht.

Mit einer Mail vom 28.02.2022 wurde mir klar, dass das alles wirklich real ist - der Krieg. In der Mail schrieb Igor, dass er sich entschieden hatte. Er würde nach Kyiv gehen, um sein zu Hause, seine Stadt und sein Land zu verteidigen:

Screenshot von Igors E-Mail, in der uns mitteilt, dass er nach Kyiv zurückgeht
Die E-Mail.

Krieg war für mich bisher entweder ein historisch-akademisches Thema, ein entferntes Medienereignis (mit dem Luxus zu wissen, dass zwar Kriege sehr schlimm sind, aber glücklicherweise weit weg) oder sogar eine Form der Unterhaltung (etwa als Computerspiel oder als Fernsehserie). Jetzt jedoch wurde der Krieg ganz konkret, in Echtzeit auf Twitter verfolgbar, mit Freunden, die schon mal mit der Waffe durch Kyiv patroullieren. Oder von getöteten Bekannten berichteten. Am 10.03.2022 schrieb Igor mir:

"Die Situation im nördlichen Teil Kyivs ist immer noch schwierig. Jeden Tag sterben hier Menschen. Gestern haben Russen den Mann von einer Freundin meiner Frau umgebracht. Es ist das erste Mal, dass einer meiner Freunde getötet wurde.

Der Krieg dauert erst 14 Tage, aber jeden Tag und jede Stunde und Minute kostet er hier Leben. Vielleicht gewöhnen sich die Leute rund um die Welt nach zwei Wochen an solche Nachrichten und an die Flüchtlinge, aber hier ist jeder neue Tag unbezahlbar."

 

Das hast du mir im März 2022 geschrieben, Igor. Was waren seitdem die wichtigsten Ereignisse und Wendepunkte in diesem Krieg für dich und dein Leben?

Da gibt es eine Menge:

1. Dass Krieg in Europa im 21. Jahrhundert möglich ist.

2. Dass das ukrainische Volk so mutig ist und bereit, seine Heimat von Kyiv bis Charkiw und von Sumy bis Odessa zu verteidigen! Mein Vater lebte in Charkiw (nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt) und ich war fast sicher, dass Russland die Stadt sehr schnell einnehmen würde. Aber die Leute waren sehr mutig, sie haben feindliche Konvois gestoppt und angezündet.

3. Dann die Massaker in Butscha und Irpin … nur 18 Kilometer von unserem Haus entfernt. Das war eine schreckliche Episode dieses Krieges! Ich war mir sicher, dass so etwas heute unmöglich wäre. Vor Butscha war ich bereit, mit russischen Eindringlingen zu sprechen; seit Butscha werde ich mein Gewehr bis zur letzten Kugel nutzen. Mit Mördern, die Zivilisten hinrichten, gibt es keine Möglichkeit zu verhandeln. Viele haben Frauen und Kinder nur zum Spaß getötet.

4. Vladolf hat bemerkt, dass es unmöglich ist, direkt gegen die ukrainische Armee zu gewinnen und sich darum entschieden, Städte und zivile Objekte anzugreifen.

5. Die westliche Welt hat erwartet, dass sich die Ukraine innerhalb drei bis fünf Tagen ergibt und hat erst nach einem Monat Krieg begonnen, die Ukraine zu unterstützen, nachdem die Ukraine bewiesen hatte, dass sie bereit ist, bis zur letzten Patrone zu kämpfen … aber jetzt weigert sich Deutschland, uns Kampfpanzer zu geben [das hat sich seit dieser Mail geändert], selbst nach 11 Monaten Krieg. Jeder Tag kostet das Leben von Zivilist:innen.

Einige Menschen in Deutschland hätten es wahrscheinlich besser gefunden, wenn die Ukraine einen Waffenstillstand oder einen Friedensvertrag unterzeichnet hätte, selbst wenn das den Verlust besetzter Gebiete an Russland bedeutet hätte - nach dem Prinzip "Leben zu retten ist wichtiger als Grenzen oder die territoriale Integrität eines Staates", auch wenn das so deutlich kaum jemand ausspricht. Ich persönlich stehe Nationalismus ablehnend gegenüber, weil er schnell gefährlich wird und würde mir eine Welt ohne Grenzen wünschen, aber trotzdem erwarte ich natürlich, dass man nicht einfach gewaltsam Grenzen verschiebt. Gleichzeitig verstehe ich, wenn man sich unwohl beim Gedanken an Waffen fühlt. Igor, wie werden Diskussionen wie etwa über die Lieferung von Leopard-2-Panzern in der Ukraine gesehen, deinem persönlichen Eindruck nach? Gibt es für die Ängste und Sorgen westlicher Skeptiker:innen noch Verständnis?

Neben den Massakern in Butscha und Irpin haben wir auch eine Menge getöteter Zivilist:innen in Isjum und anderen, mittlerweile befreiten, Städten gefunden. Ich fürchte, dass die Russen Ähnliches überall machen werden. Ohne die Unterstützung der USA, der EU und Großbritanniens hätte die Ukraine natürlich nicht so lange kämpfen können. Wir haben genug mutige Leute, aber nicht genug moderne Waffen wie Himars.

Stell dir einfach eine ähnliche Situation in Deutschland vor: Russland würde Deutschland angreifen und Ostdeutschland (das Gebiet der ehemaligen DDR) besetzen, eine Menge Zivilist:innen töten, dann behaupten, dass Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ex-UdSSR gehört hätte, und mit Atomwaffen drohen. Was würden deutsche Männer dann machen? Würden sie sagen: "Okay, Ostdeutschland ist nur ein kleiner Teil und wir werden nicht kämpfen, also lasst uns lieber alle Leute von Ost nach West umsiedeln und weitermachen wie bisher"? Ich bin sicher, nicht.

 

Diese Frage stellt mir Igor in ähnlicher Form immer wieder. Es ist ein Werben um Verständnis und der Versuch, die Situation für mich greifbarer zu machen. Und ehrlich gesagt habe ich darauf nie eine Antwort, weil ich es nicht weiß. Ich habe zwar 2000/2001 zehn Monate Grundwehrdienst in der Bundeswehr gemacht, aber nur, weil ich zu faul war, zu verweigern und es völlig, wirklich völlig, unrealistisch schien, jemals wirklich irgendwen in einem Krieg oder sonstwo töten zu müssen.

Andererseits: Alles hinter sich zu lassen, wäre ebenfalls nicht einfach. Möglicherweise erschiene in der echten Situation ein "Weitergehen", wie Igor es ausdrückt, ein pragmatisches Weitermachen trotz aller Umstände doch als der bessere Weg als eine Flucht ins Ungewisse. Ich lebe in dem Luxus, darüber nur theoretisch nachdenken zu müssen.

 

Weiterarbeiten, weiterleben

Igor, du arbeitest für eine kleine Softwarefirma, die im Prinzip ein virtuelles Team ist - USA, Großbritannien, Ukraine, Deutschland. Welchen Einfluss hatte der Krieg auf deine Arbeit? Warst du in der Lage, weiterzuarbeiten und wen ja, unter welchen praktischen oder emotionalen Umständen?

Ingesamt verzögert der Krieg die Arbeit sehr dramatisch. Ich pendle häufig zwischen Kyiv und Truskawez. Normalerweise bin ich zwei bis drei Wochen in Kyiv und dann eine Woche in Truskawez, um meine Frau und meinen Sohn zu besuchen. Oft bin ich auch in der Territorialverteidigung aktiv und helfe dabei, Frauen und Kinder zu evakuieren.

Ich versuche natürlich, weiter zu arbeiten, und meine Arbeit ist auch eine Ablenkung vom Krieg. Der Entwicklungsprozess ist wie eine Art Meditation und ein Stück des Lebens, wie es vor dem Krieg war.

Als der Krieg begann, stellte ich mir naiverweise ein permanentes Wegrennen vor Angriffen, Verstecken in Bunkern und Ausharren in Dunkelheit vor. Aber, naja, "selbst im Krieg scheint die Sonne" (und ich weiß nicht, ob das ein Zitat ist). Manchmal sehen wir in den Medien Fotos von Leuten, die noch immer in Cafés und Restaurants gehen (selbst wenn die nur durch Kerzen beleuchtet sind) oder die im Sommer durch die Stadt spazieren, so als wäre noch ein halbwegs normales Leben möglich. Kannst du mir einen typischen Tag beschreiben, wenn du zu Hause in Kyiv bist?

Das stimmt, "selbst im Krieg scheint die Sonne". Man kann wegrennen und sich die ganze Zeit verstecken, aber das übersteht man psychisch nicht. Erich Maria Remarque hat darüber geschrieben, dass die Leute selbst im Schützengraben Unterhaltung und Anzeichen eines friedlichen Lebens gefunden hatten. Es gibt da dieses berühmte Foto eines Marines aus dem Korea-Krieg 1953, der ein erst zwei Wochen altes Katzenbaby füttert.

Aber zu meinem Leben in Kyiv … nun, wenn wir keinen Luftalarm haben und es wochentags ist, bringe ich mein Kind in den Kindergarten. Der hat seinen eigenen Schutzraum, ist also sicher. Ich versuche dann zu arbeiten, mit Zusatzbatterien, wenn es Stromausfall gibt. Wenn jemand mal ausprobieren will, wie es sich ohne Elektrizität und Wasser lebt, selbst ohne das Risiko von Raketenangriffen, schalte einfach mal Strom und Wasser ab und versuche, 36 Stunden lang ein 'normales' Leben zu führen (36 Stunden war bisher die längste Zeit ohne Strom in meinem Stadtteil). Meistens wird der Strom täglich für 16 Stunden abgeschaltet, vier Mal am Tag für jeweils vier Stunden.

An den Wochenenden besucht meine Frau gerne Freunde oder geht in ein Café in der Gegend. Es stimmt, dass Restaurants Kerzen zur Beleuchtung benutzen, sowie Generatoren und offenes Feuer zum Kochen. Die Leute versuchen, Geld zu verdienen und ihren Alltag möglichst ähnlich wie in Friedenszeiten zu leben. Ich kann immer noch Blumen für meine Frau und Spielzeug für meinen Sohn kaufen. Die Post und der öffentliche Nahverkehr versuchen auch, ihre Leistungen aufrechtzuerhalten. Sogar das Kino hat auf, aber bei Luftalarm müssen die Zuschauer den Saal verlassen und runter in den Schutzraum gehen.

Deine Arbeit für vFlyteAir findet am Computer statt, und insbesondere für den Microsoft Flight Simulator brauchst du eine stabile Internetverbindung. Wie zuverlässig war das in den letzten Monaten? Wie bist du mit den Stromausfällen zurechtgekommen?

Ein Laptop auf einem Schreibtisch, darunter eine große Batterie
Der Laptop mit dem Flugsimulator, Strom kommt aus der großen Batterie unter dem Schreibtisch (Bild: Igor Kirilov)

Auf dem Foto hier siehst du eine meiner Notfall-Batterien. Außerdem habe ich eine extra Stromversorgung für meinen Internet-Router, den ich zusammen mit dem Glasfaserkabel nutze, um selbst bei Stromausfall eine stabile Leitung zu haben.

Bist du noch aktiv in der Territorialverteidigung in Kyiv? Wie beeinflusst das dein tägliches Leben, und wie geht das mit deiner "virtuellen" Arbeit zusammen?

Im Moment nicht. Als die Russen Kyiv verlassen haben, sind viele Leute der lokalen Verteidigungseinheit zur regulären Armee gegangen. Unser Offizier hat mich nach meiner Spezialisierung gefragt. Ich selbst habe einen Abschluss vom Luftfahrtinstitut Charkiw und einige Erfahrung mit Wartung von und Bodendienstleistungen für MiG-23-Kampfjets.

Foto, das Igor während seiner Wehrdienstzeit früher in einem alten Flugzeugcockpit zeigt
Igor in früheren Jahren (Bild: Igor Kirilov)

Unser Offizier hat mir aber gesagt, dass sie Spezialist:innen für Artillerie und Befestigungen brauchen, kein Bodenpersonal für Flugzeuge. Also hat er mir erlaubt, zu Hause zu bleiben und mich erstmal bereit zu halten, falls es später nötig wird.

In den ersten Monaten des Krieges war das noch anders. Da habe ich etwa 75% meiner täglichen Zeit in der Territorialverteidigung verbracht.

Deine Frau ist Ärztin, soweit ich weiß. Wie beeinflusst der Krieg ihre Arbeit?

Meine Frau ist Ärztin. Sie hat einen Abschluss der Medizinischen Universität Lwiw und eine Qualifikation als Gerichtsmedizinerin. Aber als junge Frau fand sie es anstrengend und belastend, so eng mit einem Pathologen zu arbeiten. Also hat sie ihr Spezialgebiet auf Schönheitsoperationen geändert - insbesondere im Gesicht. Sie bildet mittlerweile andere Ärzte weiter, um zum Beispiel Lippen zu korrigieren.

Ich war überrascht, dass die Frauen in Kyiv selbst jetzt noch auf sowas Wert legen. Aber das ist ein bekanntes Phänomen - im Zweiten Weltkrieg wuchs die Modeindustrie in den USA und in Europa. Frauen wollen immer schick sein.

Du hast mir Fotos von deinem Sohn gezeigt, er sieht darauf ziemlich glücklich aus. Wie betrifft der Krieg ihn? In einem Fernsehinterview mit einer ukrainischen Mutter sah ich kürzlich, dass sich ihre Kinder schnell an den Krieg gewöhnt hätten, sodass sie damit zurechtkommen, aber als Mutter fand sie genau das beängstigend. Wie ist es in deiner Familie?

Wir versuchen, ihn soweit es geht aus dem Krieg herauszuhalten. Natürlich ist er fünf Jahre alt und versteht schon eine Menge. Und die Kinder hier spielen militärische Spiele. Er lernt alle Arten von Panzern und Waffen kennen, aber das sind alles noch Spiele für ihn.

Foto, auf dem Kindergartenkinder Waffen erklärt bekommen
Kindergarten im Krieg (Bild: Igor Kirilov)

 


 

Das Interview endete an dieser Stelle eigentlich, aber der Krieg leider nicht. Am 25.01. war erneut Luftalarm in Kyiv. Igor schreibt mir:

Es geht mir gut und meine Frau ist nicht zur Arbeit gegangen und mein Sohn ist zu Hause.

Es ist ein Teil des Alltags in Kyiv! In "Im Westen nichts Neues" schrieb Erich Maria Remarque, dass 99 Prozent des Kriegs aus Warten bestehe, nur 1 Prozent aus Kampf. In Kyiv ist es genauso. 99 Prozent sind das normale Alltagsleben, ja, zwar 16 Stunden ohne Elektrizität und meistens ohne Wasser (weil die Wasserpumpen auch Strom brauchen), aber auch ohne Cruise Missiles über uns.

Aber das verbleibende eine Prozent ist eben das große Risiko, eine russische Rakete in deine Wohnung zu bekommen und lebendig begraben zu werden.

Wenige Tage später, erneute Angriffe, diesmal wurde ein Wohnhaus in Kramatorsk getroffen. Am 02.02. schreibt mir Igor:

Du hast neulich gesagt: "Selbst im Krieg scheint die Sonne" und ich möchte ergänzen: "Selbst im Krieg brauchen die Leute Geld und müssen zur Arbeit gehen" - und jeder Tag hat für uns solche Risiken.

 

Das Titelbild zeigt einen Blumenstrauß, der am Ukrainischen Unabhängigkeitstag 2022 vom ukrainischen Präsidentenehepaar an einer Gedenkmauer niedergelegt wurde. (Quelle: Ukrainische Regierung, CC BY-NC-ND 4.0, Link zur Galerie)

 

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