Freund:innen, die mich gut kennen, wissen, dass ich auf die Frage "Was machst Du (so)?" gern mal antworte: "Einfach eine Runde doof gucken". Das ist meine Übersetzung von "Ich brauche mal wieder nur Zeit für mich, um ganz zur Ruhe zu kommen, nach stressigen Phasen wieder runter zu kommen und einfach in den Tag hineinzuleben". Andere nennen es "Batterien aufladen", "Energie tanken" oder "einfach chillen". Gemeint ist in etwa immer das gleiche – nämlich nicht viel anderes zu machen als seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen, keine verpflichtenden Aufgaben erledigen zu müssen und in der Regel auch wenig mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Einer meiner Lieblingsautoren, Byung-Chul Han, hat darüber jetzt ein Buch geschrieben, das sich "Vita Contemplativa oder von der Untätigkeit"1 nennt und nach Hans eigenem Bekunden ein Gegenentwurf zu Hannah Arendts "Vita Activa oder vom tätigen Leben"2 darstellen soll. Am Ende des Buches zeigt sich – wie vermutet – dass beide Lebensweisen sich natürlich nicht widersprechen und gar nicht ohne einander funktionieren können.
Das kontemplative in sich Ruhen ist kaum vorstellbar und macht den meisten Menschen nicht viel Spaß, wenn sie nicht vorher aktiv gewesen sind oder etwas Besonderes geleistet haben – sei es bei der Arbeit, beim Sport oder auch in der Familie und mit Freund*innen. Aus meiner Sicht begreift Byung-Chul Han das aktive Leben zu negativ, als etwas, das den Menschen aufoktroyiert wird. Dabei gibt es ja auch ein Handeln, das Freude bereitet und nicht nur "stumpfsinnige" Arbeit bedeutet. Han hat vor allem das ständige Kommunizieren und die ständige Unruhe im Auge, die durch das Informationszeitalter unbestreitbar verstärkt wurde. Er plädiert deshalb für das zweckfreie Nichtstun im Unterschied zur Last des Handelns. Auch wenn ich ihm in vielen Punkten zustimmen kann, fällt meine Diagnose des aktuellen Zeitgeschehens etwas anders aus.
Meine Beobachtung ist, dass die Menschen gerade während der Pandemie durchaus die positiven Seiten des Nichtstuns kennen gelernt haben. Es ist in vielen Berufen glücklicherweise nicht mehr so, dass die Arbeitnehmer*innen bei ihrer Arbeit unterjocht und immer weiter zu Höchstleistungen angetrieben werden. Immer mehr Arbeitnehmer*innen fordern ihre Rechte auf Rückzug, Freizeit, Homeoffice und flexibles Arbeiten ein. Die Pandemie hat bei dieser Entwicklung sicher wie ein Katalysator gewirkt. Diese Rechte, die Arbeitnehmer*innen immer mehr einfordern, führen zu einer Situation, in der vieles noch nicht reibungslos läuft, eingespielte Routinen und Prozesse in Gesellschaft und Wirtschaft nicht mehr richtig funktionieren und erst entsprechende neue Regularien oder Richtlinien ausgearbeitet werden müssen. Aber es geht in die richtige Richtung – nämlich dahin, dass sich Arbeitnehmer*innen weniger fremdbestimmt fühlen und die viel beschworene Work-Life-Balance nicht nur eine leere Phrase bleibt. Dazu kommt, dass durch den demographischen Wandel (viele Arbeitnehmer*innen erreichen ihr Rentenalter in den nächsten Jahren) die Mitarbeitenden in vielen Branchen auch wieder am längeren Hebel sitzen werden, um ihre Wünsche durchsetzen zu können.
Aber nun zurück zur "Vita Contemplativa". Ich selbst bin eine starke Verfechterin für diese Lebensart und praktiziere sie auch schon seit Jahren 😉. Da ich eine große Musikliebhaberin bin und Musik bei mir die angenehmsten Emotionen auslöst, höre ich mich an solchen Tagen durch mein CD-Regal und halte auch Ausschau nach neuer Musik – leider nicht mehr im Plattenladen, sondern nur noch online auf diversen einschlägigen Seiten…das ist ein wunderbarer organischer Prozess, dem ich mich solange hingebe, bis ich einen Zustand einer großen inneren Ruhe erreicht habe – einen Zustand, den ich auch manchmal nach Laufeinheiten empfinde. Und in dieser völligen Entspannung fällt es mir dann auch leicht, solche Texte, wie zum Beispiel diesen, zu verfassen und damit auch wieder zum HANDELN zu kommen.
Wenn Byung-Chul Han in seinem Buch "Vita Contemplativa" Walter Benjamin, Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche, Marcel Proust oder Robert Musil zitiert, die das kontemplative Leben sehr reizvoll finden und in ihren Essays und Romanen das Flanieren, das Warten, den Schlaf, den Traum, die Untätigkeit oder auch das Fasten als Lebenshaltungen beschreiben, die zur Wahrheit führen, zu einer Form von Transzendenz und Festlichkeit – dann scheint mir dieser Denkansatz doch ein sehr männlicher zu sein. Es ist nicht so, dass ich zum Beispiel dem asketischen Leben nichts abgewinnen könnte und nicht auch wüsste, dass es eine Form der Selbstbestimmung und Freiheit sein kann, wenn diese Lebensform aus freien Stücken gewählt wird, wie es zum Beispiel Mönche und Nonnen in Klöstern fast aller Religionen tun. Aber man muss sich so ein Leben der Muße auch leisten können bzw. auch eine entsprechende Bildung besitzen, die eine Reflexion darüber überhaupt erst ermöglicht. Das ist ein Gedanke, der mir in den letzten Monaten immer klarer geworden ist – dass unsere Philosophie sehr männlich geprägt ist und ich diese als emanzipierte Frau bisher viel zu wenig hinterfragt habe.
Byung-Chul Han meint, dass zum Beispiel kriegerische Auseinandersetzungen, die er als Handeln definiert, zwar "konstitutiv für die Geschichte" seien, aber nicht als "kulturbildende Kraft" taugen. Kulturbildend seien dagegen Feste, Rituale, Schmuck oder andere Kunstwerke. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man Krieg wirklich als HANDELN bezeichnen kann. Für Hannah Arendt bedeutet das Handeln zum Beispiel jeder kommunikative Akt, der die Gesellschaft in ihrer freiheitlichen Demokratie einen Schritt weiterbringt.
Kontemplation und Nachdenken sind die Voraussetzungen für ein richtiges HANDELN. Byung-Chul Han interpretiert Arendts "Vita Activa" so:
"Entgegen Arendts Überzeugung hängt die Zukunft der Menschheit nicht von der Macht handelnder Menschen ab, sondern von der Wiederbelebung des kontemplativen Vermögens, des Vermögens also, das nicht handelt. Vita activa entartet zur Hyperaktivität und endet im Burnout, nicht nur der Psyche, sondern auch des ganzen Planeten, wenn sie nicht die vita contemplativa in sich aufnimmt".
Dieser These von Han stimme ich absolut zu – mit dem Unterschied, dass ich glaube, dass es Hannah Arendts Theorem vom politischen Handeln nicht widerspricht. Sie hat mit dem Begriff des (politischen) Handelns die großen gesellschaftlichen Veränderungen im Blick – das Buch erschien ja auch bereits 1958, in einer ganz anderen politischen und ökonomischen Situation als die, in der wir uns jetzt befinden.
Aktionistisches und hyperaktives Handeln schadet in der Tat unserem Planeten. Etwas mehr Untätigkeit und weniger Konsum von uns allen, würde den Planeten und seine natürlichen Ressourcen schonen. Und wenn wir alle zu Hause blieben, gäbe es weniger Gewalt, weniger Konflikte, weniger Unfälle usw., aber eben auch kaum Neues, das wir jedoch als Menschen auch brauchen, um unser Leben überhaupt als sinnvoll und ausgefüllt empfinden zu können. Die Beschränkungen des alltäglichen Lebens während des Höhepunkts der Pandemie haben uns gezeigt, wie sehr die Zeit ihre Konturen verliert und zu einem Großen, Ganzen verschwimmt und wir diese Zeit teilweise als verloren empfinden, wenn uns positive, zwischenmenschliche Erlebnisse und Ereignisse fehlen, die das Leben erst ausmachen und wodurch wir uns auch als Menschen weiterentwickeln und voneinander lernen können.
Das HANDELN im Sinne von Hannah Arendt bedeutet nicht eine größere Ausbeutung der Arbeiterklasse und eine stärkere Ausprägung der Leistungsgesellschaft, die wir sowieso nicht mehr haben, sondern ein HANDELN, das uns schneller auf eine höhere Stufe des zivilisatorischen Daseins bringt.
Externe Links
1 Verlagswebsite zu Byung-Chul Hans Buch "Vita Contemplativa" [Achtung: Dieser Link führt zur Website der Ullstein Buchverlage. Laut Datenschutzerklärung des Anbieters der verlinkten Seite sind Teile der Seite in den USA gehostet. Dadurch kann beim Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen werden. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel
2 Wikipedia-Eintrag zu Hannah Arendts Buch "Vita Activa" [Achtung: Dieser Link führt zur Enzyklopädie Wikipedia, die von der Wikimedia Foundation betrieben wird, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in den USA. Die Server von Wikimedia befinden sich in den USA, wodurch beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel
Titelbild: Pexels / Arthur Brognoli
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