Phänomenologie
Über das Spüren von Spielen: Leibhaftigen Horror aushalten
26.07.2022
Seit vielen Jahren ist Heather in einem düsteren, rostigen Gang gefangen, sie kann weder vor noch zurück und in nervenzerreißender, sich hinhaltender Erwartung befürchtet sie das Schlimmste. Erlösung vor dem dunklen Nebel, dem alles zerfressenden Rost, den gesichtslosen, fleischigen, rosa-braunen, narbigen, sich willkürlich bewegenden Monstern kann Heather nicht erwarten. Nicht durch mich. Ich kann ihr nicht helfen, so gerne ich möchte.
Dabei ist Heather Mason nur eine Computerspiel-Figur. Sie entstammt dem Spiel Silent Hill 3 (2003). Aber helfen kann und - irgendwie will - ich ihr doch nicht. Wieso nicht? Eigentlich ist es ganz einfach: Ich kann diesen blanken Horror nicht aushalten. Darum habe ich aufgehört und darum ist Heather seit Jahren in der nebligen Zwischenwelt gefangen. Das ganze Spiel verströmt eine Atmosphäre der Angst, des Grauens, des Dunklen. Und diese Atmosphäre ist leiblich für mich spürbar.
Leib und Körper
Ich unterscheide hier mit Hermann Schmitz1 den Leib vom Körper, um zu verdeutlichen, dass ich nicht von messbaren Eigenschaften spreche wie dem Körperumfang, der Körpergröße oder den Organen. Der Körper ist all das, was ich also betasten und sehen kann. Von Leib spreche ich, weil das Spüren von Empfindungen nicht immer seh- und tastbar ist.
Dazu gehören auch solche Phänomene wie das Spüren von Atmosphären. Ich denke da auch an ganz alltägliche Atmosphären wie die Frische, die sich nach einem sommerlich-warmen Regenguss ergibt, oder die beschwingte Atmosphäre einer Party oder die drückende Atmosphäre einer Beisetzung.
Wir können solche Atmosphären wahrnehmen und sogar regelrecht affektiv von ihnen betroffen, ganz ergriffen sein. Wenn wir von Atmosphären ergriffen werden, dann werden sie zu ganz eigenen Gefühlen, was die Intensität des leiblichen Spürens, insbesondere für mich als Spielerin von Silent Hill 3, ins Extreme steigert.
Synästhetische Charaktere
Atmosphären können gemacht werden2, wie in Silent Hill 3. In diesem Spiel, das in der namensgebenden fiktiven Stadt spielt, wirken verschiedene stilistische Mittel, die eine Atmosphäre blanken Horrors erzeugen.
Da wären zum einen die sogenannten synästhetischen Charaktere. Damit ist gemeint, dass wir bestimmte Reize spüren, ohne dass wir sie aufgrund eingehender Sinnesdaten sehen, hören oder ertasten können. Wenn wir etwa spitze Klingen sehen, dann können diese in uns Empfindungen wie das Einschneiden in (unser menschliches) Fleisch suggerieren. Aber auch raue Oberflächen, wie der Rost an den Wänden und allen Gegenständen im Spiel suggerieren uns eine Berührungsempfindung, die sich uneben, löchrig anfühlt. Es wirkt geradezu epikritisch, spitz zulaufend.
Das Sehen dieser Oberfläche reicht also schon aus, um in mir eine unangenehme Berührungsempfindung auszulösen. Auch die blassen Farben wirken suggestiv, die zusätzlich den ganzen Ort als eine Art „Nicht-Ort“ (Marc Augé3) erscheinen lassen. In Silent Hill möchte man nicht wohnen. Es wirkt kalt, karg, die Farben stoßen ab, erzeugen eine innere Leere, in der sich der Leib anspannt und einengt.
Der Leib, also ich, möchte weg!
Bewegungssuggestionen
Ein weiteres stilistisches Mittel zur Erzeugung von Atmosphären sind Bewegungssuggestionen. Hierbei handelt es sich um "Vorzeichnungen einer Bewegung" (Schmitz), die wir an Lebewesen und Objekten wahrnehmen können und die uns bestimmte Bewegungen suggerieren. Wenn also eines der Monster sich auf mich, äh, ich meine auf Heather, zubewegt, dann geschieht dies in Silent Hill 3 auf die sehr eigentümliche Art und Weise.
Das Monster Numb Body (s. Abb. rechts), welches an sich schon eine ekelerregende Erscheinung besitzt, weil es wie eine protopathische (dumpfe, weiche) Masse daherkommt, bewegt sich ruckelnd auf mich zu, weshalb es schwierig ist einzuschätzen, welchen Punkt das Monster ansteuert. Natürlich kommt es auf mich, also Heather zu. Aber es schwankt und zuckt nach links und rechts, nach vorne und nach hinten aus, was die Bewegungen des Monsters weniger vorhersehbar macht.
Diese epikritischen Bewegungen (das Ruckelende, Zuckende, spitz Zulaufende) in Kombination mit den protopathischen Elementen, nämlich des Monsterkörpers als dumpfer Fleischmasse, wobei der „Stachel“ am hinteren Teil des Körpers wiederum etwas Epikritisches hat, wirken hierbei als Gegenspieler und erzeugen eine sehr beklemmende und geradezu abstoßende Atmosphäre.
Leiblich befinde ich mich als Spielerin in einem Dauerzustand der Angespanntheit. Körperlich ist dies sichtbar, weil ich meine Beine an den Bauch ziehe und fest umklammere (insbesondere wenn mein Mann den Controller bedient und ich zuschaue). Der permanente Grundton des Nervösen wird als leibliche Regung während des gesamten Spielens spürbar. Aufgrund der Anspannung verschiebt sich der sogenannte vitale Antrieb (ein Wechselspiel aus leiblicher Weitung wie beim Dösen und leiblicher Engung wie beim Schreck) in die Enge. Einerseits ist man wie gefesselt, andererseits möchte man sich losreißen von dem, was man sieht.
Besonders im Schreck zerreißt dieser vitale Antrieb dann jedoch. Bei einem besonders heftigen Schreck dominiert eine leibliche Enge, in der sich die erschreckende Person ihrer selbst nicht mehr bewusst ist. Mir passiert dies beim Spielen ein paar Male zu oft, so dass ich leiblich und körperlich völlig erschöpft jedes Mal aufgeben musste.
Die Rache der Spielfiguren?
Ob Heather sich diesem Grauen jemals wird entziehen können? Obwohl ich um die Mittel weiß, die diese grausame Atmosphäre erzeugen, bin ich jedoch immer wieder erneut von ihr leiblich so ergriffen, dass ich sie nicht auszuhalten vermag.
Doch vielleicht gelingt es mir später einmal, zusammen mit meinem Mann, Heather aus ihrem Horrortrip zu befreien. Denn die Vorstellung, dass sie - aber auch andere Figuren, die wir in Horrorspielen zurücklassen (z.B. Ethan Winters in der Villa der Familie Baker aus Resident Evil 7) - uns aus Rache irgendwann einmal heimsuchen könnten, ist nicht minder unangenehm.
Wiebke Schwelgengräber studierte Germanistik, Philosophie und Kommunikationswissenschaften. Ihre Forschungsinteressen umfassen anthropologische, phänomenologische und psychologische Fragen des Erzählens und Fühlens. 2022 erschien ihr Buch "Wer sehen will, muss spüren. Warum uns manche Serien und Filme berühren und uns andere kaltlassen" als Band 4 der Über/Strom-Buchreihe.
Referenzen und Externe Links
1 Schmitz, Hermann (2011): Der Leib. Berlin u. a.: Walter de Gruyter. Alle im weiteren Textverlauf kursiv gesetzten Begriffe entstammen Schmitz‘ Beschreibungsinventar für leibliche Regungen. / Zurück zum Artikel
2 Wie Atmosphären speziell in Computerspielen entstehen, hat kürzlich Felix Zimmermann in seiner Dissertation untersucht. Vgl. dazu das Gespräch mit Zimmermann in Folge 47 des Podcasts Behind the Screens [Achtung: Die Datenschutzerklärung der verlinkten Seite schließt nicht aus, dass u.U. personenbezogene Daten, u.a. Ihre IP-Adresse, in Drittstaaten, u.a. die USA, übermittelt werden. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.]. / Zurück zum Artikel
3 Augé, Marc (2012): Nicht-Orte. München: Beck. / Zurück zum Artikel
4 Der Titel "Hometown" aus dem Soundtrack von Silent Hill 3 auf YouTube [Achtung: Dieser Link führt zum Videoportal YouTube. Das Portal gehört zu Google und ist den USA gehostet. Dadurch wird beim Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel
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