Schreiben
Schreiben wie früher: WordStar, TP und WordPro
22.12.2020
Jede*r Autor*in hat wohl Lieblingswerkzeuge - Stifte, Notizbücher, Schreibmaschinen, Computer und entsprechende Textverarbeitungsprogramme. Bei berühmten Autor*innen, wie George R.R. Martin (Das Lied von Eis und Feuer bzw. Game of Thrones) oder William Gibson (Neuromancer), gehört es zum Image, dass sie ihre Vorliebe für veraltete Technik herausstellen. Gibson schrieb Neuromancer auf einer 1927 gebauten Schreibmaschine. Und Martin erklärte noch 2014, dass er seine - immerhin äußerst umfangreichen - Fantasy-Romane auf einem uralten PC aus den 1980ern verfasst, was einige Wellen im Internet schlug. Martin setzt WordStar ein, eine heute längst nicht mehr erhältliche, aber bis Anfang der Neunziger sehr beliebte Textverarbeitung. Auch andere Schreiber*innen, wie Michael Chabon oder Anne Rice, konnten sich nur schwer zu neuerer Software durchringen.
Intuitiv Schreiben statt sich nach Maschinenlogik richten
Der kanadische Science-Fiction-Autor Robert J. Sawyer hat die Vorliebe für WordStar einmal damit begründet, dass bei diesem Programm der Schreibprozess im Vordergrund stünde, während spätere Programme, wie WordPerfect oder Microsoft Word, die Nutzer*innen zwingen würden, sich der Logik des Programms zu unterwerfen. Sawyer erklärte das am Beispiel Copy & Paste: Bis heute hat sich durchgesetzt, dass wir einen auszuschneidenden oder zu kopierenden Textblock von Anfang bis Ende markieren, dann die Aktion (ausschneiden oder kopieren) wählen, dann den Cursor an die Zielposition verschieben und den Block dort einfügen.
Dies hat nach Sawyer zwei gravierende Nachteile: Erstens sind wir nach Abschluss der Prozedur nicht mehr an der Stelle, wo wir vorher waren, was den Gedanken- und Schreibfluss unterbricht. Zweitens muss der ganze Vorgang in einem Rutsch durchgeführt werden, was uns zwingt, genau zu wissen, was wir wohin kopieren oder verschieben wollen. Was aber, wenn wir zwar intuitiv ahnen, dass wir den gerade aktuellen Textblock eventuell irgendwo hin verschieben wollen, aber noch nicht genau wissen, wo der Block enden wird und wohin er am Ende soll? Da wäre es doch schön, den Block zwar schon mal zu markieren, aber ansonsten erstmal abzuwarten.
In Word & Co. lässt sich so eine Offenheit nicht umsetzen, da herrscht die binäre Logik des Computers, in der es nur Entweder-oder gibt. Entweder du schreibst, oder du markierst und kopierst bzw. verschiebst. Beide Prozesse (Sawyer spricht vom Modus der Komposition einerseits und dem Modus des Überarbeitens andererseits) sind getrennt. Sie intuitiv vermischen, das wollen vielleicht spinnerte Schriftsteller*innen, aber doch keine rational denkenden Computeruser, die sich doch bitte schön so verhalten sollten, wie es Aufgabenmodelle in der Softwareentwicklung vorsehen! Allein, im viel älteren WordStar ging das problemlos. Blöcke wurden einfach am Anfang und Ende mit sichtbaren Sonderzeichen markiert, und die Markierung blieb so lange bestehen, bis sie (vielleicht) gebraucht wurde. Es konnten sogar mehrere Blöcke markiert sein. Für Sawyer kommt dies dem handschriftlichen Entwerfen und Überarbeiten näher als die Konzepte anderer Programme.
Textprogramme in der DDR
Ich selbst bin mit WordStar über Umwege in Kontakt gekommen. Kurz nach der Wende, als ich noch Teenager war, hatte ich das Glück, einen nicht mehr benötigten DDR-Computer namens "Kleincomputer KC85/3" zum Geburtstag zu bekommen. Mindestens bis 1996 oder 97 nutzte ich das Gerät sehr intensiv, was sich noch verstärkte, als ich dazu ein Diskettenlaufwerk bekam (vorher konnte ich nur auf Musikkassetten speichern).
Zu dem Diskettenlaufwerk gehörte auch ein komplett anderes Betriebssystem: MicroDOS. Das war die KC85-Variante von SCP. SCP wiederum war ein DDR-Nachbau des amerikanischen Betriebssystems CP/M. Daher war es für die Softwareverfügbarkeit zu DDR- Zeiten ein leichtes, auch entsprechende Programme des „Klassenfeindes“ zu beschaffen und für eigene Zwecke anzupassen. Und so wurde aus WordStar das vom Staatsbetrieb Robotron illegal auf Deutsch übersetzte TP (TextProgramm). Als TPKC landete es auf meinem kleinen Computer. TPKC war die erste kommerzielle Bürosoftware, die ich je verwendet habe, wenn auch viele Jahre "zu spät".
Zum richtigen Schreiben - neben Hausaufgaben waren das vor allem recht nihilistische Weltschmerzgeschichten, wie sie im Jugendalter wohl häufiger vorkommen - benutzte ich aber eine andere Software: WordPro. Das war eine echte DDR-Eigenentwicklung. Sie wurde vom Vater-Sohn-Gespann Klaus und Stefan Schlenzig programmiert und 1986 in Buchform verbreitet.
Ich entdeckte das Buch in der Stadtbibliothek der Kleinstadt, in der ich wohnte, und wo ich mir ständig irgendwelche Computersach- und Fachbücher auslieh. Dass auch umfangreichere Programme als abgedruckte Quelltexte zum Abtippen verbreitet wurden, war in den Homecomputer-Szenen in Ost wie West nicht ungewöhnlich. WordPro jedoch lag als reiner Maschinencode vor - viele Seiten untereinander gedruckte Hexadezimalzahlen, nicht mehr als ein 1:1-Speicherabzug jedes einzelnen Bytes, die in ihrem Zusammenspiel das Programm bildeten.
Lange überlegte ich, ob ich den Aufwand wirklich auf mich nehmen wollte, aber das Programm klang toll und es hatte sogar hübsche Icons in seinem Ein-/Ausgabemenü. Also setzte ich mich eines vormittags wirklich hin und tippte alles ab, eine sehr meditative Wochenendbeschäftigung, die ich damals noch ganz ohne Kaffee absolvieren konnte. Computeraffine Mitschüler waren zu jener Zeit längst mit modernen PCs ausgestattet und hatten derlei Aufwand nicht nötig, aber ich mochte meinen KC und brauchte damals auch nichts anderes. Tatsächlich hatte ich abends eine funktionsfähige WordPro- Kopie, die ich schnellstens auf Kassette abspeicherte.
Das Besondere an WordPro war, dass es (zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung) erstmals erlaubte, 80 Zeichen in 30 Zeilen auf dem KC-Bildschirm darzustellen — also die komplette Breite einer normalen Textseite. Normalerweise wurden (wie auf dem westlichen Commodore C64) nur 40 Zeichen dargestellt, vermutlich, weil das beim Anschluss des KC an ein Fernsehgerät mittels Antennenkabel besser lesbar war. Ernsthafte Textverarbeitung war so aber kaum möglich; zwar gab es dafür das von Horst Völz entwickelte Programm TEXOR, das im 40-Zeichen-Modus arbeitete und viele grundlegende Funktionen besaß, aber man konnte einfach nicht gut erkennen, wie der gedruckte Text am Ende aussehen würde.
Mit WordPro ging das, und so machte das Schreiben am KC richtig Spaß. Offenbar fanden das auch andere, denn wie ich Jahre später in der KC-Emulatorszene im Internet merkte, gab es vom originalen WordPro zahlreiche Varianten, die es um neue Features ergänzten. Am ausgereiftesten war am Ende WordPro 6 von Mario Leubner, das bis 2000 kommerziell vertrieben wurde und seitdem Freeware ist; das letzte Update gab es immerhin noch 2007.
Im Retrofieber: WordPro für ablenkungsfreies Schreiben
Diesen Artikel, den Sie gerade lesen, schreibe ich auf einem emulierten KC85 unter WordPro 6. Der Emulator heißt KC85EMU und läuft selbst wiederum nur unter DOSBox (diese verschachtelte Emulation - der echte Computer emuliert einen MS-DOS-PC, und der emuliert den KC85 - wäre fast selbst einen Artikel wert). Obwohl das aus heutiger Sicht alles sehr pixelig aussieht (die Bildschirmauflösung des KC beträgt 320×256 und ist im Emulator auf 1024×768 hochskaliert), schreibt es sich sehr gut. Heute gibt es Programme wie FocusWriter oder Online-Dienste wie Writer, die ablenkungsfreies Schreiben ermöglichen, aber eigentlich mache ich hier gerade nichts anderes. Mit so alter Software ist Schreiben immer ablenkungsfrei. Es geht ja gar nicht anders.
Der echte Computer, auf dem der KC-Emulator letztlich läuft, ist ein ThinkPad T420 (2011). Den Laptop habe ich mir vor ein paar Jahren gebraucht und aufbereitet gekauft. Mit seinem matten Bildschirm und seiner wirklich tollen Tastatur ist er ohnehin ein hervorragendes Schreibgerät, und ich überlege gerade ernsthaft, ob ich die Kombination aus ThinkPad und KC-Emulator mit WordPro eine Weile so beibehalte, um die Artikel für Über/Strom zu schreiben, auf altmodische Weise, wie zu meiner Jugend. Großen Aufwand bereitet das nicht, und das Problem des Datenaustauschs ist offensichtlich lösbar (sonst wäre dieser Text nicht im Blog sichtbar). Den Text kann man als .txt speichern und auch wieder laden. Auf dem PC muss man nur darauf achten, die alte DOS-Zeichenkodierung OEM 850 einzustellen, damit Umlaute und Sonderzeichen richtig übernommen werden. Alternativ ist auch virtuelles Ausdrucken als .rtf-Datei möglich. Die lässt sich dann in jedem modernen Textprogramm öffnen. Dabei bleiben auch Formatierungen (fett, unterstrichen, usw.) erhalten.
Fazit
WordStar, bzw. seine DDR-Variante TP, habe ich damals erst nach WordPro kennengelernt. Wie erwähnt, war die Verbreitung von TP nach internationalen Maßstäben nicht erlaubt, weil es eine modifizierte unlizenzierte Kopie von WordStar war. Ähnliches geschah auch mit anderer westlicher Software: Aus der Datenbank dBase wurde REDABAS, aus dem Betriebssystem MS-DOS wurde DCP, aus CP/M SCP. Naja, und der Prozessor fast aller Ostcomputer, der U880, war ebenfalls eine illegale Kopie des westlichen Z80.
Das Betriebssystem des KC85 hingegen (es trug den Namen CAOS, was für Cassette-Aided Operation System oder kassettengestütztes Betriebssystem stand) war eine eigene Entwicklung und mit seinem menübasierten Aufbau meiner Meinung nach komfortabler als der westliche C64 (der direkt in die Programmiersprache BASIC startete).
Aber vor allem Programme wie WordPro zeigten, dass es zwar vielleicht aus staatlicher Sicht effizient (oder "rationell", wie es in der DDR-Literatur zum Computereinsatz oft hieß) war, Westsoftware wie WordStar zu kopieren, dass sich aber die Programmierer(*innen?) mit ihren eigenen Ideen und Produkten nicht verstecken brauchten.
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