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Philosophie

Queere Leiblichkeit(en) – Plädoyer für eine neue Perspektive

von Daphne Schwarz

17.11.2025

Die Phänomenologie bietet mit dem Leib-Konzept Möglichkeiten, das Erleben unterschiedlichster, auch non-binärer Geschlechtlichkeiten besser zu fassen, ohne auf die alte Unterscheidung von Körper und Seele zurückzugreifen. Bislang wird dieses Potenzial aber kaum genutzt. In diesem Gastbeitrag plädiert Daphne Schwarz für ein Umdenken.

Teile von unterschiedlichsten Gesichtern sind zu einem Gesamtgesicht zusammengesetzt; das Gesicht ist so eingefärbt, dass es an die Transgender-Flagge erinnert.

Bild: Shutterstock

„Das Geschlecht eines Menschen steckt nicht in seinem Körper, sondern in seiner Seele. Und darüber kann der Arzt nicht befinden, sondern nur das Subjekt selbst.“1 Mit diesem Satz sprach sich der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935) für die Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität aus. Ein Penis und ein Bart machen keinen Mann, eine Vulva und Brüste keine Frau. Es kommt allein darauf an, was die Person empfindet und über sich selbst aussagt.

Der Pionier der Erforschung von Queerness und Aktivist für queere Rechte argumentiert hier entlang mehrerer aufeinander aufbauender Gegensätze, die ich im Folgenden näher untersuchen und kritisieren werde.

Aber warum sich an einer These abarbeiten, die 100 Jahre alt ist? Ein Blick in die Gegenwart zeigt, dass diese Gegensätze immer noch eine wichtige Rolle spielen.2 Zur Zeit finden in vielen Ländern heftige gesellschaftspolitische Debatten über die Anerkennung trans*geschlechtlicher Identitäten statt. Die Verweigerung dieser Anerkennung wird dabei häufig durch den Verweis auf objektive Merkmale des Körpers begründet, während auf der befürwortenden Seite zumeist im Sinne des Hirschfeld-Zitates argumentiert wird, diese körperlichen Merkmale seien gegenüber dem subjektiven Erleben nachrangig. Die Voraussetzungen des Arguments sind also weiterhin weitestgehend akzeptiert: hier der Körper, dort die Seele; hier der Arzt, dort das Subjekt. Der Körper ist „Materie“, die Seele ist „Geist“. Der Körper ist „objektiv“. Der Arzt kann seine Merkmale überprüfen und damit Aussagen über diesen Körper bestätigen oder widerlegen. Die Seele dagegen ist „subjektiv“. Ihre Eigenschaften und Zustände sind nur für die Person selbst erkennbar. Nur sie weiß, was sie empfindet und erlebt.

Geschlecht kann nicht beobachtet, sondern nur empfunden werden. Gerade deswegen besteht hier jedoch eine Art von Unerschütterlichkeit. Nur die Person selbst kann wissen, wer sie „in ihrem Innersten“ ist. Aber dadurch, wie sie es weiß, kann sie darüber auch nicht irren. Wenn ich mich freue, dann weiß ich auch, dass ich mich freue. Wenn ich die Schmerzen eines Schnitts am Finger spüre, weiß ich auch, dass ich diese Schmerzen spüre. Aussagen wie „Ich freue mich“, „mein Finger tut weh“, oder eben „Ich bin ein Mann“ können demnach nicht begründet werden, brauchen es aber auch nicht.

Hirschfelds Argument beginnt mit einer metaphysischen These über das „Wesen“ von Geschlecht: Es ist Seele und nicht Körper. Diese begründet eine These, die das Wissen über Geschlecht betrifft: nur das Subjekt kann sein Geschlecht kennen. Daraus folgt die moralische Konsequenz, dass niemand anders beanspruchen darf, es besser zu wissen. Damit nimmt Hirschfeld eine weitere Unterscheidung vorweg, die heute in Diskussionen um Geschlecht und Identität eine wichtige Rolle spielt: die zwischen „Sex“ und „Gender“. Sex ist biologisch und damit objektiv. Gender dagegen bezieht sich auf das individuelle Empfinden.

Einige offene Fragen

Ich denke, dass diese Herangehensweise, das Verhältnis von Körper, Geschlecht und Identität zu verstehen, falsch ist. Ich glaube, die scharfe Trennung zwischen Körper und Geist hindert uns daran, zu verstehen, wie sie auf jeweils ihre Weise zu der Geschlechtsidentität einer Person beitragen. Meines Erachtens lässt sie einige Fragen offen, von denen ich exemplarisch folgende nenne:

Wie kann Hirschfelds Subjekt über das eigene Geschlecht befinden? Was genau weiß es, wenn es das tut, wie ist es zu diesem Wissen gelangt, worauf kann es sich berufen, wenn es sich unsicher ist? Viele trans* Personen kennen die Momente des Zweifelns am eigenen Trans*sein, oder daran, ob sie eine Transitionsmaßnahme so dringend wünschen. Wenn Geschlecht in der Seele und damit unbezweifelbar gewiss ist, dann ist nicht klar, wie die Einsicht in das eigene Trans*Sein und den Wunsch nach bestimmten Transitionsschritten als Reflexionsprozess beschreibbar ist.

Wie lässt sich der körperliche Aspekt von Geschlecht erklären? Wir erleben unseren Körper als vergeschlechtlicht, im Guten, wie im Schlechten. Dysphorie, das Gefühl, dass bestimmte körperliche Merkmale nicht dem eigenen Geschlecht gerecht werden, betrifft nicht nur trans* Personen. Aber wenn das Geschlecht in der Seele steckt, wie lässt sich dann der Wunsch nach körperlichen Veränderungen erklären, die die eigene Geschlechtsidentität bestätigen? Wie erklärt sich das Hochgefühl, das sich einstellt, wenn diese Veränderungen eintreten?

Wenn Identität und Geschlecht als Aspekt davon „innerlich“ ist, wie erklärt sich dann der Wunsch nach passing, also danach, von anderen Personen als einem bestimmten Geschlecht zugehörig wahrgenommen zu werden? Identität ist darauf angewiesen, ausgedrückt und mitgeteilt zu werden. Auch hier ist nicht klar, wie sich dies mit der radikalen Subjektivität von Geschlecht vereinbaren lässt.

Diese Beispiele sollten deutlich machen, dass die Gegenüberstellung von Körper und Seele, objektiv und subjektiv, Sex und Gender mehr Probleme aufwirft als sie löst.

Ich denke daher, dass es eine Perspektive auf das Verhältnis von Körper, Geschlecht und Identität braucht, die diese Gegenüberstellung gar nicht erst zulässt. Meines Erachtens eröffnet die Leibphänomenologie genau diese Perspektive. Dieser philosophische Ansatz, für den ich vor allem Maurice Merleau-Ponty, Iris Marion Young und Thomas Fuchs heranziehe, untersucht die Struktur erstpersonalen Erlebens und geht dabei davon aus, dass unsere Subjektivität leiblich ist, und unser Körper die Struktur unserer Subjektivität mitgestaltet.

Leiblichkeit und Subjektivität

Die Leiblichkeit subjektiven Erlebens meint, dass es nicht „im Geist“ stattfindet. Die Wärme der Sonne spüre ich auf der Haut, den Hunger in der Magengrube. Wir erfahren die Welt dort, wo sie mit uns in Kontakt tritt, und unsere körperlichen Bedürfnisse dort, wo sie entstehen. Die empfangende Dimension unserer Subjektivität ist daher untrennbar mit dem Erleben unseres Körpers verbunden. Freude lässt mich leichtfüßig die Straße entlanggehen, Wut kann mich zum Zittern bringen. Weil unsere Gefühle einen Ort und eine spezifische Ausdrucksweise haben, erleben wir unseren Körper auch in der emotionalen Dimension der Subjektivität. Aber auch die aktive Dimension der Subjektivität drückt sich körperlich aus. Wenn ich meine Hand ausstrecke, um einen Keks vom Teller vor mir zu nehmen, ist mein Wollen in meiner zugreifenden Hand, meinem ausgestreckten Arm, meinem vorgebeugten Oberkörper. Das Erleben der Welt und unserer selbst ebenso wie das Sich-Ausdrücken in der Welt findet also vermittelt durch den Körper statt, und dabei erleben wir den Körper ebenfalls. Dieses erstpersonale Erleben des eigenen Körpers im Erleben der Welt und der eigenen Subjektivität ist die Leiblichkeit.3

Der Begriff der Leiblichkeit stellt eine Alternative zu den Gegensätzen von „objektivem“ Körper und „subjektivem“ Geist dar: der Leib ist Materie, aber er ist aus einer erstpersonalen Perspektive erlebte Materie. Darüber hinaus drücken sich die „geistigen“ Zustände auch leiblich aus, wie z. B. durch Gestik, Mimik, Körperhaltung und andere, sodass sie für Außenstehende erkennbar sind. Die Leiblichkeit menschlicher Existenz ist dadurch auch der Ausgangspunkt dafür, Identität nicht als statisch und innerlich zu verstehen, sondern als dynamisch und interaktiv. Wer ich bin, werde ich dadurch, dass ich von anderen als eine bestimmte Person wahrgenommen werde und meine Identität gegenüber anderen ausdrücke. Meine personale Identität besteht darin, dass ich in einem bestimmten Verhältnis zu mir selbst, zur Welt und zu anderen Personen stehe. Dadurch mache ich bestimmte Erfahrungen und entwickle Verhaltensweisen, die wiederum beeinflussen, in welches Verhältnis ich mich zu mich selbst, der Welt und anderen Personen setze.4

Selbst-, Welt- und Fremdverhältnis bringen einander hervor. Es ist nicht so, dass ich beispielsweise zuerst mich selbst als eine bestimmte Person begreife, dies dann ausdrücke und von anderen auch so wahrgenommen werde, oder umgekehrt zunächst ein unbeschriebenes Blatt bin und mir Identitätszuschreibungen anderer aneigne. Selbst-, Welt- und Fremderfahrung sind, um einen Ausdruck von Heidegger zu benutzen, „gleichursprünglich“ in der Leiblichkeit, durch die an jeder dieser drei Erfahrungen die jeweils anderen Anteil haben. Keine der drei Erfahrungsarten bringt die jeweils anderen hervor, sondern sie sind voneinander abhängig und können nur in dieser Abhängigkeit verstanden werden.

Leibphänomenologie und Geschlechtlichkeit

Ausgehend von dem Gedanken, dass alle Aspekte unserer Subjektivität leiblich sind, kritisiert die Leibphänomenologie auch den Gegensatz von „Sex“ und „Gender“. Das Geschlecht eines Menschen ist nicht in der Seele und auch nicht im Körper, es ist eine Weise, wie ein Mensch als leibliches Subjekt sich zu sich selbst, der Welt und anderen Menschen verhält.5 Leibphänomenologische Zugänge zur Geschlechtlichkeit sind dabei nicht neu. Bereits Simone de Beauvoir bezog sich in ihrem wegweisenden Werk Das Zweite Geschlecht auf Edmund Husserl, um das Leben von Frauen im Patriarchat von einer Analyse weiblicher Leiblichkeit aus zu erschließen.6

Die US-amerikanische Philosophin Iris Marion Young griff diese Überlegungen später auf und erweiterte sie, indem sie Maurice Merleau-Pontys Überlegungen zur Leiblichkeit zielgerichteten Handelns einbezog. Damit zeigte sie, wie die Einleibung patriarchaler Normen und Rollenerwartungen Frauen in ein zwiespältiges Erleben ihrer selbst zwingt, das sie an der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten hindert.7 So werden Mädchen bereits in jungen Jahren zu Spielen angehalten, durch die sie den Raum um sich herum als Begrenzung ihrer Bewegungsmöglichkeit erleben. Jungen dagegen lernen, den Raum als Weite zu erleben, in die sie sich vorwagen können. Dies bringt Mädchen dazu, in ihren Handlungen niemals ihr volles Potenzial zu entfalten, weil sie das Gefühl haben, ansonsten an eine unsichtbare Barriere zu stoßen.8 Die Gleichursprünglichkeit von Selbst-, Welt, und Fremderleben kann auch zu verzerrten Vorstellungen von sich selbst führen, wenn die ideologisch geprägte Fremdwahrnehmung übernommen wird.

Es gibt also leibphänomenologische Zugänge zum Verhältnis von Körper, Geschlecht und Identität, die auch von Anfang an das Ziel hatten, eine Kritik an patriarchalen Verhältnissen philosophisch zu fundieren. Diese Zugänge bleiben jedoch binär und cisnormativ, wenn sie sich in einer phänomenologischen Analyse cis männlicher und cis weiblicher Leiblichkeit erschöpfen und suggerieren, damit sei das Thema vollständig bearbeitet.9 Trans* Geschlechtlichkeit thematisieren sie überhaupt nicht, und wenn sie es doch einmal tun, dann um das Schreckgespenst eines „Genderismus“ zu beschwören, der „die Geschlechtlichkeit des Menschen gänzlich zur freien Verfügung stellen“ wolle, „de[n] Körper selbst zum Experimentierfeld“ machen und die Leiblichkeit zum „Spielfeld, auf dem sich immer neue ‚Konstruktionen‘ und Mischformen ergeben“.10 Phänomenologische Ansätze werden dann bemüht, um dieses Schreckgespenst zu exorzieren. Einerseits hat die Leibphänomenologie also die theoretischen Ressourcen, um das Verhältnis von Körper, Geschlecht und Identität mit Blick auf Queerness zu untersuchen, andererseits gibt es wenige bis keine Versuche, ebendies zu tun. Abschließend möchte ich daher anhand der eingangs aufgeworfenen Fragen skizzieren, wie eine Konzeption queerer Leiblichkeit aussehen könnte.

Queere Leiblichkeit(en): ein paar Gedanken

Mit welcher Art von Wissen, Gründen und Zweifeln haben wir es hier zu tun? Geschlecht ist eine dynamische Struktur sich wechselseitig konstituierender und beeinflussender Erfahrungs- und Handlungsweisen. Reflexion über die eigene trans* Geschlechtsidentität lässt sich mit Thomas Fuchs zunächst verstehen als eine „Dissonanz“ in dieser Struktur. Eine Diskrepanz zwischen dem „rollenhaften Außenleib“ und dem „gespürten Leib“ führt zur „Fixierung auf ein Selbst-Ideal“.11 Diese besteht in dem überwältigenden Wunsch, von Anderen auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden, „während gleichzeitig der Zugang zu den eigenen leiblichen Regungen verlorengehen kann, bis hin zur inneren Leere und Gefühlskälte.“ Doch während diese Phänomenbeschreibung bei Fuchs pathologisierend wirkt, ist es für trans* Personen nicht zwingend irrational, eine erhöhte Aufmerksamkeit dafür zu haben, wie sie für andere erscheinen. Dieser Reflexionsprozess ist durch das Erleben und die Kontextualisierung von Dissonanz jedoch nicht vollständig beschrieben. Positive Erlebnisse wie Euphorie oder das Gemeinschaftsgefühl in queeren Räumen gehören auch dazu und sind noch wichtiger, weil darin Antworten auf Fragen liegen, die sich im Verlauf des Reflexionsprozesses stellen.

Wie erklären wir Geschlechtsdysphorie und -euphorie? Auch hier geht es zunächst um eine Dissonanz in der dynamischen Interaktionsstruktur, in der sich Identität vollzieht. Jeder Mensch erlebt auf Grund der eigenen körperlichen Verfasstheit die Welt und sich selbst auf eine bestimmte Weise und wird auf eine bestimmte Weise gesehen – so auch trans* Personen. Dysphorien stellen bestimmte Formen von Dissonanzen im leiblichen Selbsterleben oder der Wahrnehmung durch andere dar. Entsprechende Transitionsschritte lassen sich dann verstehen als Veränderung des Selbsterlebens und des Wahrgenommenwerdens. Dies bewirkt eine Harmonisierung der Interaktionsstruktur. Euphorie bedeutet dann, dass gewünschter Eigenleib, tatsächlicher Eigenleib und Außenleib miteinander im Einklang sind. Dabei bleibt die ursprüngliche Erfahrung der Dissonanz Teil der individuellen Biographie, was einerseits zu neuen Dissonanzen in Form von Ängsten oder Unsicherheiten führen kann, andererseits aber auch erst die Harmonisierungserfahrungen zu Momenten der Euphorie macht.

Wie lässt sich die soziale Dimension von Geschlecht erklären? Sein und Wahrgenommenwerden sind gleichursprünglich. Wenn Geschlecht kein „seelischer Zustand“ ist (wie noch von Hirschfeld behauptet), sondern, wie gezeigt, ein Aspekt einer dynamischen Struktur von Interaktionszusammenhängen, stellt der Wunsch, auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden, kein Rätsel oder gar einen Einwand gegen die Validität von trans* Identitäten mehr dar. Er ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil von personaler Identität.

Ein leibphänomenologischer Zugang zum Verhältnis von Körper, Geschlecht und Identität lässt sich auf die Gegenüberstellung von „Körper“ und „Seele“ gar nicht erst ein und erlaubt dadurch, dieses Verhältnis angemessen zu erfassen.

Eine oder viele queere Leiblichkeiten?

Eine offene Frage ist, ob sich von der queeren Leiblichkeit überhaupt sprechen lässt, oder ob die Bandbreite von trans* und nichtbinären Identitäten nicht so vielfältig ist, dass sie sich der Analyse als ein geteiltes Muster von Erfahrungen entzieht. In ihrer Untersuchung (cis) weiblicher Leiblichkeit behandelt Iris Marion Young diese als das Ergebnis der Einleibung patriarchaler Normen. Diese geschieht dadurch, dass Frauen bereits als junge Mädchen mit diesen Normen konfrontiert werden und dadurch ein Muster von Erfahrungen teilen. Dies bedeutet nicht, dass sie alle die exakt gleichen Erfahrungen machen, aber dass es eine bestimmte Schnittmenge an geteilten Formen von Erfahrung gibt. Daher lässt sich von einem gewissen Abstraktionsniveau aus von einer „weiblichen Biographie“ sprechen, aus der sich eine bestimmte Form einer leiblich manifestierten dynamischen Interaktionsstruktur ergibt, also eine „weibliche Identität“. Bei trans* Personen ist aber nicht klar, ob sich ihre Erfahrungen in vergleichbarer Weise überschneiden und eine Form von Identität hervorbringen, unter der sie erfasst werden könnten. Können die Lebensgeschichten einer transfeminin-nichtbinären Person, eines binären trans Mannes und einer bei der Geburt männlich eingeordneten agender Person ohne Wunsch nach medizinischer Transition alle als die gleiche Art von Geschichte eingeordnet werden?

Denkbar wäre, das Herausfallen aus cis-heteronormativen Erwartungen und die sich daraus ergebenden Dissonanzen und Harmonisierungen als ein Muster von Erfahrungen zu verstehen. Dieses drückt sich zwar auf eine sehr individuelle Weise in den Lebensgeschichten von trans* Personen aus, besteht aber dennoch aus gleichartigen Erfahrungen und bringt daher eine queere Identität hervor. Dafür müsste es hinreichend allgemein sein, um alle Formen von queerer Geschlechtsidentität zu erfassen, aber nicht so abstrakt, dass es nicht mehr inhaltlich beschreibbar ist. Ein anderes Ergebnis könnte sein, dass sich nur von queeren Leiblichkeiten im Plural sprechen lässt.

Épater les cis

Ich denke, dass Hirschfeld die Gegensätze von Körper und Seele auch deswegen so stark betont, weil er seinem Publikum die Vorstellung erst begreiflich machen muss, dass es trans* Personen gibt. Nuancen und theoretische Feinheiten würden hier eher verwirren. Aber gerade seinen Bemühungen und denen anderer ist es zu verdanken, dass keine Notwendigkeit mehr für derartige Vereinfachungen besteht. Ich möchte meine Kritik daher als Anerkennung und Fortführung seines Wirkens verstanden wissen. Die Zeit ist reif, mehr Komplexität zuzumuten, um trans*feindlichen Positionen den theoretischen Boden zu entziehen. Der Begriff der Leiblichkeit und ein Verständnis von Geschlecht als leibliches Phänomen ermöglicht dies.

 

Daphne Schwarz (dey/sie): Daphne studierte Staatswissenschaften und Philosophie in Erfurt und Philosophie in Göttingen, wo dey 2024 mit einer Arbeit über moralische Wahrnehmung promoviert wurde. Neben Leibphänomenologie und Queerness interessiert sie sich für metaethische Fragen der Tugendethik und des guten Lebens.

 

Externe Links

1 Magnus Hirschfeld, zitiert nach: Rainer Herrn: Das Geschlecht ruht nicht im Körper, sondern in der Seele. Magnus Hirschfelds Positionen zum Hermaphroditismus und ihre gutachterliche Umsetzung, in: Männlich-weiblich-zwischen, 2015. / Zurück zum Artikel

2 United Kingdom Supreme Court: For Women Scotland Ltd v The Scottish Ministers. (2025) UKSC 16 Hinweis: Beim Anklicken externer Links kann es sein, dass Ihre IP-Adresse in Drittstaaten außerhalb der EU übertragen wird. Klicken Sie die Links nur an, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind. / Zurück zum Artikel

3 Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Klett-Cotta, 2000, S. 88-90. / Zurück zum Artikel

4 Ebd., S. 292-293. / Zurück zum Artikel

5 Sara Heinämaa: Sex, Gender, and Embodiment, in: Dan Zahavi (Hrsg.): The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, Oxford University Press, 2012, S. 216–242, hier S. 236. / Zurück zum Artikel

6 Ebd., S. 229. / Zurück zum Artikel

7 Iris Marion Young: Throwing Like a Girl: A Phenomenology of Feminine Body Comportment, Motility, and Spatiality, in: On Female Body Experience: „Throwing Like a Girl“ and Other Essays, Oxford University Press, 2005, S. 36-38. / Zurück zum Artikel

8 Ebd., S. 39-41. / Zurück zum Artikel

9 Beispielhaft dafür: Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, S. 258 und Heinämaa: Sex, Gender, and Embodiment, S. 229. / Zurück zum Artikel

10 Alle Zitate dieses Absatzes ab „die Geschlechtlichkeit“ in: Harald Seubert: Zuhause sein im Leib? Überlegungen zu Gender und Sexualität. Eine philosophische Kritik, in: Martin Hähnel Marcus Knaup (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, wbg Academic, 2014, S. 70. / Zurück zum Artikel

11 Fuchs: Leib, Raum, Person, S. 295. / Zurück zum Artikel

 

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