ÜBERSTROM

Buch-Rezension

"Politiken des (Digitalen) Spiels", hrsg. v. Arno Görgen & Tobias Unterhuber

von Mario Donick

16.11.2023

Als eines der aktuellsten 'Opfer' des Sterbens gedruckter Zeitschriften gab kürzlich das Videospielmagazin GamePro (webedia-Verlag) bekannt, künftig auf das Printheft zu verzichten und nur noch als Online-Portal über Videospiele zu berichten. Andere Medien berichteten darüber und darunter sammelten sich Kommentare von Leser*innen. Einige bedauerten die Nachricht, einige waren eher gleichgültig, und einigen kann man wohl Schadenfreude unterstellen. Interessanterweise gab es auch Kommentare, die das Ereignis in den Bereich des Politischen einordneten.

Sehnsucht nach dem Unpolitischen im Spiel

Zum Beispiel wird unter der Meldung des Portals GamersGlobal über die Einstellung der GamePro1 in einem Leserkommentar erwähnt, dass die GamePro Gendersprache verwendet, während das ebenfalls von webedia (weiterhin) produzierte Magazin GameStar darauf verzichtet. In dem so entstehenden kurzen Diskurs wird sich dann generell über das Eindringen des Politischen in die Domäne des Spiels beklagt – eine häufige Kritik unter meist männlichen und tendenziell etwas älteren Spielern.

Screenshot eines Ausschnitts des Kommentarbereichs von GamersGlobal unter der Newsmeldung zur Einstellung der gedruckten GamePro
Ausschnitt des Kommentarbereichs von GamersGlobal unter der Newsmeldung zur Einstellung der gedruckten GamePro

Der (?) User "ds1979" schreibt:

"Warum muss man dieses Thema auf Spiele ausdehnen? Ist doch Wurscht ob der Spieler seinen Müll trennt, Habeck oder sonst wenn wählt es geht doch nur um Spiele nicht mehr aber auch nicht weniger. […] Das politische hab ich schon jeden Tag in der Arbeit für die Behörde, brauch ich in meinem Privatleben wie ein zweites Arschloch."

Ein weiterer User, "Sir McRand", stimmt zu:

Gaming bedeutet eintauchen in eine andere Welt als die unsere. Eskapismus. Ich will darin keine aktuelle Realwelt-Ideologie haben.

Diskurse wie dieser hier nur stellvertretend gezeigte finden so und ähnlich seit einigen Jahren immer wieder statt, wenn das scheinbar unpolitische Thema Computer- und Videospiele mit Politik in Verbindung gebracht wird. Kommt Realpolitik ins Spiel, wird es schnell emotional.

Beispielsweise fühlten sich in ihrer Männlichkeit unsichere 'Gamer' offenbar ganz zerbrechlich, weil es das Rollenspiel Starfield (Bethesda, 2023) wagte, bei der Charaktererstellung die genderneutralen Pronomen "dey" und "dem" (engl. "they" und "them") als Option (!) anzubieten, um Spieler*innen anzusprechen, die sich abseits binärer Geschlechtskategorien definieren (es gibt viele Gründe, Starfield zu kritisieren, aber ausgerechnet das gehört nicht dazu).

Spiel wird noch immer als Gegensatz zur politischen 'echten' Welt angesehen. Spiele selbst sowie Medien, die über Spiele berichten, sollen aus dieser Perspektive möglichst verschont bleiben von entsprechenden Problematiken. Der Eskapismus soll nicht gestört werden.

Spiele sind immer politisch

Doch man muss nicht Adornos Kritik an Unterhaltungsmedien bemühen, um festzustellen, dass auch digitale Spiele immer schon politisch waren und bis heute sind. Jedes Medium entsteht unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und ist beeinflusst durch die subjektiven Erfahrungen und Ansichten derjenigen, die an ihm mitwirken. Als Menschen in Gesellschaft haben wir alle eine politische Brille auf, ob wir uns diese bewusst machen oder nicht. Autor*innen, Programmierer*innen, Designer*innen, Grafiker*innen, Regisseur*innen – alle Spiele-Entwickler*innen im weitesten Sinne – sind davon ebensowenig ausgenommen wie die Redakteur*innen und Gastautor*innen von Videospielzeitschriften.

Umschlag des Buches Politiken des (digitalen) Spiels
Arno Görgen & Tobias Unterhuber (Hrsg.): Politiken des (digitalen) Spiels. Transdisziplinäre Perspektiven, transcript-Verlag, 2023.

In ihrem im Herbst 2023 erschienenen Buch "Politiken des (digitalen) Spiels. Transdisziplinäre Perspektiven" versammeln die Herausgeber Arno Görgen und Tobias Unterhuber nun 23 Beiträge, in denen die Problematik herausgearbeitet und nachvollziehbar gemacht wird.2 Neben umfangreicheren wissenschaftlichen Aufsätzen enthält der Band auch Kurzbeiträge (Miszellen) sowie Interviews.

Zugrundegelegt wird in der Einleitung eine Definition von Politik, die diese als "Beeinflussung von sozialen Verhältnissen und damit die Aushandlung von Machtverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft" betreffend ansieht (S. 8). Das erlaubt es, sowohl 'kleine' Diskussionen wie die eingangs erwähnten zu erfassen, als auch 'große' Themen anzubinden, wie die immer wieder auftauchende "Killerspiel"-Debatte, den #GamerGate-Skandal3, diverse Vorfälle sexueller Belästigung und des Machtmissbrauchs in Spielestudios, misogyne Verhaltensweisen männlicher 'Gamer' in Spielecommunitys, sowie die Verzahnung männlicher 'Gaming'-Kulturen und fragiler politischer Männlichkeit. Ergänzend verweisen die Herausgeber auf das Spielerische im politischen System selbst, "das sich in Begriffen wie Player, Nullsummenspiel, Win-Win, Rolle und Akteur und anderen manifestiert" (ebd.).

Das Politische rund ums Spiel

Die Beiträge des Bandes sind thematisch vielschichtig, stammen aus unterschiedlichen Disziplinen und sind alle lesenswert. Nur beispielhaft kann ich hier einige hervorheben.

Regine Strätling etwa berichtet über Spiel als politische Praxis in der "Situationalistischen Internationalen", einer linken Künstler*innen-Bewegung, die von 1957-1972 aktiv war. Manuel Günther zeigt, dass das beliebte Genre der Computerrollenspiele (CRPGs, wie das oben erwähnte Starfield) vor seiner Kommerzialisierung fast schon subversive Tendenzen hatte, indem es nämlich durch die Zweckentfremdung von Forschungsgerät entstand (die Nutzungs- und Rechenzeit auf den ersten Computern war begrenzt und eigentlich für wissenschaftliche Projekte vorgesehen, nicht zur Unterhaltung). Diese Anfänge sind freilich vergessen; heute entstehen wirtschaftlich erfolgreiche Computerspiele in einer Milliardenindustrie, in der ähnlich wie in der Filmindustrie Ausbeutung und oft auch Missbrauch an der Tagesordnung sind.

In dem Zusammenhang ist Laura Laabs Beitrag lesenswert. Laabs richtet das Augenmerk auf Sexismus in der Spielewerbung und analysiert Nintendo-Werbung der 1990er- bis 2000er-Jahre im Kontext toxischer Männlichkeit. Werbung, in denen Frauen und Spielekonsolen nebeneinander als verfügbare Objekte für den männlichen Spieler inszeniert werden, führen in einer Linie zu den jüngeren Skandalen der 'Gaming'-Szene wie #GamerGate und dem Problem sexuellen Missbrauchs in Spielefirmen.

In dem Kontext steht auch das Interview von Nora Beyer mit der Künstlerin und Game Designerin Natalie Lawhead. Lawhead erlebte selbst sexuellen Missbrauch in der Spielebranche. Im Buch wird darauf hingewiesen, dass Lawhead 2019 den Komponisten Jeremy Soule des sexuellen Missbrauchs beschuldigte; Soule hatte bis dahin jahrelang u.a. für die beliebten und sehr erfolgreichen Elder-Scrolls-Spiele von Bethesda die Soundtracks komponiert. Anstatt durch Medien Unterstützung zu erfahren, so berichtet Lawhead im Interview, musste sie zwei Jahre lang gegen eine spielebezogene Medienplattform vorgehen, die den "Missbrauch […] ausschlachtete und Quellen fehlinterpretierte". Zur mitunter fragwürdigen Rolle des Spielejournalismus wird gleich nochmal hinzuweisen sein.

Historische Thematiken in Spielen

Auch der Umgang mit der Geschichte ist ein Thema, in dem sich Spiele und Spielen als politisch zeigen. An einigen Beiträgen des Bandes wird das Kontinuum deutlich, in dem Spiele mit historischen und politischen Thematiken produziert und rezipiert werden. Da ist einerseits der Anspruch auf Information und Bildung, andererseits das schon eingangs angesprochene Zurückziehen ins angeblich Unpolitische des Spiels. Christian Günther und Robert Parzer schreiben über "Spielerisches Erinnern an Opfer des Nationalsozialismus". Ihr Fallbeispiel ist "Spuren auf Papier", das 2022 erschien und Euthanasie zur NS-Zeit zum Thema hat; es wurde für eine Gedenkstätte entwickelt. Zu dem Spiel ist im Buch auch ein Werkstattbericht von Anne Sauer enthalten, in dem die Entstehung des Spiels skizziert wird. Stellvertretend für das andere Ende des Kontinuums zeigt der Beitrag von Benjamin Kirchengast, wie Spieler*innen, statt zu erinnern, lieber versuchen, Geschichte zu entpolitisieren; Kirchengast zeigt das am Beispiel des Zweiten Weltkriegs (u.a. in Strategiespielen und Shootern ein beliebtes Setting).

Ironischerweise ist bei Spieler*innen trotz ihrer Sehnsucht nach unpolitischen Spielen der Wunsch nach Authentizität da, gerade bei Spielen mit historischen Thematiken. Um den eigenen Anspruch, historisch authentische Spiele zu spielen, zu bestätigen, greifen Spieler*innen weniger auf fachwissenschaftliche Analysen zurück, sondern eher auf Artikel des Spielejournalismus. In dem Zusammenhang zeigt Aurelia Brandenburg sehr schön, wie Spielemagazine zur Beurteilung historischer Authentizität meistens männliche Historiker als Experten heranziehen. Die Aufgabe der Beurteilung der Authentizität bzw. die Geschichtswissenschaft als solche wird damit als Männerdomäne reproduziert. Da die Redakteure ebenfalls meist Männer sind, teils mit Geschichtsstudium (worauf je nach Thema in Autorenkästen auch hingewiesen wird), inszenieren sich die Redakteure dadurch selbst als Experten – Historiker unter sich diskutieren, wie es denn nun 'wirklich' war.

Stimmiges Gesamtbild

Obwohl die meisten Beiträge des Buches nicht in direktem Bezug zueinander stehen, ergänzen sich ihre Perspektiven. Es wird deutlich, dass es unpolitisches Spielen nie gab und nie geben kann. Produktionsbedingungen, Spielen zugeschriebene oder abgesprochene Funktionen, Darstellungsweisen und Narrative, sowie das Sprechen und Schreiben über Spiele und Spielen können nicht anders als politisch sein.

Die Entscheidung, auch Interviews sowie Kurzbeiträge in den Band aufzunehmen, ist zu begrüßen. Das Buch behandelt wichtige Themen, aber das Format und teils die Sprache wissenschaftlicher Aufsätze mag für Menschen ohne akademische Ausbildung abschreckend sein. Die Interviews auf jeden Fall, aber auch einige der Kurzbeiträge bieten einen leichteren Zugang in die Thematik und konkret einen Einstieg ins Buch. Sie eignen sich auch für den Einsatz im Schulunterricht und in der politischen Bildung. Eine Vertiefung kann dann mit den längeren Analysen erfolgen.

Das Buch "Politiken des (digitalen) Spiels. Transdisziplinäre Perspektiven", herausgegeben von Arno Görgen und Tobias Unterhuber, ist 2023 im transcript-Verlag erschienen und kostet gedruckt 49,00 EUR; die eBook-Version als PDF oder ePub kann kostenfrei bei Verlag heruntergeladen werden.

 

Externe Links

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2 Website zum Buch mit Download-Link [Achtung: Der verlinkte Verlag bindet u.a. Google Analytics ein, wodurch Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

3 Wikipedia-Artikel, in dem die Vorgänge rund um #GamerGate zusammengefasst sind. [Achtung: Dieser Link führt zur Enzyklopädie Wikipedia, die von der Wikimedia Foundation betrieben wird, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in den USA. Die Server von Wikimedia befinden sich in den USA, wodurch beim Klick auf den Link und Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen wird. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel

 

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