Technikgeschichte
Hackerkulturen in Ost und West. Interview mit Julia Gül Erdogan
19.01.2023
Der [sic, da fälschlich meist männlich vorgestellte] Hacker wird von vielen Leuten noch immer als Bedrohung angesehen. Da sind Bilder von Einbrüchen und Diebstählen im Kopf. Dabei geht es beim Hacken eigentlich um Zweckentfremdung von bzw. kreativen Umgang mit Technik. Die Historikerin Julia Gül Erdogan (Universität Stuttgart) hat bereits 2021 ein Buch vorgelegt, das Hackerkulturen in Deutschland untersucht - und zwar, was sehr erfreulich ist, in beiden früheren deutschen Staaten, denn auch in der DDR gab es eine lebhafte Computerszene.
Ein offenes Verhältnis zur Technik ist sowohl Folge als auch Voraussetzung für einen selbstbewussten Umgang mit ihr. Um in der immer mehr von Computern strukturierten Welt handlungsfähig zu bleiben, dürfen wir uns selbst nicht als der Technik hilflos ausgesetzt ansehen. Durch immer abgeschlossenere technische Systeme ist das heute erschwert: Technik wird in der Bedienung einfacher, aber wollen wir sie tiefer durchdringen, gibt es oft keine handhabbaren Ansatzpunkte mehr, zumindest nicht für Selbststudium oder das spielerische Ausprobieren. Das war in der 1980ern noch anders.
Wie sich das in Ost wie West in der Gesellschaft niederschlug, und welche Rolle gerade auch weibliche Hacker:innen spielten, erklärt Julia Gül Erdogan in ihrem Buch - und in folgendem Interview, das wir im Lauf des letzten Jahres per Mail geführt haben.
MD: Es ist jetzt schon eine Weile her, dass du dein Buch zu Hacking-Kulturen in BRD und DDR veröffentlicht hast. Wie waren die Reaktionen darauf?
JE: Weitestgehend positiv, weil die Geschichte der Hacker noch nicht so viel Aufmerksamkeit erfahren hatte. Besonders die deutsch-deutsche Perspektive, also, dass ich auch die DDR untersucht habe, ist gut angekommen. Ich habe auch E-Mails von denjenigen bekommen, deren Kindheit und Jugend ich in meiner Arbeit untersucht habe, und das waren in erster Linie schöne Rückmeldungen. Sie konnten sich in meiner Arbeit wiederfinden, haben aber auch Neues dazu gelernt. Aber natürlich gab es ebenfalls Hinweise auf Aspekte, die im Buch nicht behandelt werden oder zu kurz kommen.
Was zum Beispiel?
Einzelne Stimmen halten den Hackerbegriff, den ich für die Untersuchung genutzt habe, für zu weit gefasst. Ursprünglich stand der Begriff "hack" für eine "improvisierte", schnelle Lösung von technischen Problemen, die ihren Zweck tat, aber nicht immer die dafür vorgesehenen Komponenten nutzte.
So ähnlich wie heute in "Life Hack", wo meist normale Tipps und Tricks zu Haushalt und Alltag als "Hack" bezeichnet werden, obwohl es eben einfach normale Tipps sind?
Einerseits schon, da es beim Hacken allgemein um den kreativen Umgang mit Technik geht. Andererseits geht es den Hackern schon konkret um eine Begeisterung für Computer- und Elektrotechnik. Und die beinhaltet noch etwas mehr als nur das Improvisieren und sich kluge Lösungen zu überlegen. Es geht dabei auch um ein Verständnis der komplexen digitalen Technik und eine Verschiebung von gesellschaftlich angenommenen Einsatzmöglichkeiten und Grenzen der Nutzung dieser.
Gab es den Begriff des "Hackers" in beiden Staaten? Wenn ja, war er gleich definiert?
Wie ich schon angedeutet habe, wandelte sich der Begriff in seiner kurzen Geschichte seit den späten 1950er Jahren ständig und wurde von verschiedenen Akteuren verschieden aufgefasst. In der Bundesrepublik galt weitgehend bis in die 1980er Jahre ein begeisterter Computernutzer (zu der Zeit wirklich stereotypisch männlich), der fast schon besessen von Computern war, als "Hacker".
Was ja eigentlich seltsam ist: Immerhin wurden die ersten Computer sehr oft von Frauen programmiert. Weißt du, warum sich das [oder das Bild von Programmierer:innen] geändert hat? Hat "Mann" das bloße Programmieren anfangs eher als eine Art Hilfstätigkeit angesehen und erst später als kreativ-technische Aufgabe?
Die Leistung der Frauen in der Geschichte und auch in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde oft heruntergespielt. Ihre Arbeit am Computer wurde tatsächlich oft als bloße "Hilfstätigkeit" gedeutet und ihnen damit durchaus auch die Fähigkeit des Programmierens abgesprochen. Was dann aber in der kritischen Auseinandersetzung in den Geschichtswissenschaften wieder korrigiert wurde. Dabei konnten bspw. Untersuchungen von Nathan Ensmenger oder Janet Abbate zeigen, dass auch die zunehmende Bedeutung von Software und des Programmierens, einerseits den Blick auf die Leistung der Frauen veränderte. Andererseits wurde dadurch das Programmieren ab den 1970er Jahren finanziell attraktiver, sodass Männer zunehmend auf den Arbeitsmarkt drängten, der zuvor von Frauen ausgeübt wurde - natürlich schlechter bezahlt.
Wie sich Technik, die Möglichkeiten, was mit ihr getan werden kann, und ihre Bedeutung in der Gesellschaft über die Zeit hinweg verändert, ist als Faktor für die Bewertung der Akteure nicht zu unterschätzen. Das gilt nicht nur für nicht-männliche Akteure sondern ja auch für den Hackerbegriff.
In den 1980ern wandelte sich das Bild. Einerseits, weil Gruppen wie der Chaos Computer Club sich aktiv und öffentlich in den Prozess der Computerisierung einbrachten und hierdurch ein recht positives Bild von Hackern als Aktivist:innen und Computerexpert:innen entstand. Andererseits wurden Hacker im Laufe der 1980er Jahre, als sich Computernetzwerke ausbreiteten, auch immer mehr als Störenfriede und Kriminelle und so vor allem als Gefahr einer digitalisierten Gesellschaft angesehen.
War das im Osten auch so?
In der DDR gab es diese letztgenannte Zuschreibung auch, allerdings wurden Hacker von offiziellen Stellen als Phänomen der westlichen Industrienationen beschrieben. Was die Netz-Aktivitäten anbelangt, stimmte es natürlich, dass sich solche Hacker in der DDR kaum fanden. Die private Nutzung der neuen, digitalen Kommunikationswege war hier sowohl aufgrund des repressiven Regimes als auch aufgrund der technischen Infrastruktur nicht auf gleiche Weise möglich, wie im Westen - auch wenn es einzelne Fälle gab.
In der DDR wurde weniger zwischen verschiedenen Typen der Computernutzer:innen differenziert. Allgemein sprachen Autoritäten von "Computerfans", egal ob diese gerne programmierten, Videospiele spielten oder sich mit Computer-Hardware befassten. Da der Hackerbegriff in den 1980er Jahren international immer politischer und mit subversiven Praktiken verbunden wurde, passte der Begriff nicht in das Bild, das Autoritäten von der Einigkeit in der DDR transportieren wollten.
Hacken wird im Alltag oft als etwas Kriminelles angesehen, u.a. weil es mitunter mit dem Cracken (von Sicherheitsschlüsseln, Kopierschutz etc.) verwechselt wird. Gab es solche Differenzierungen (erlaubtes Hacken/Basteln; unerlaubtes Handeln) auch im Osten?
In der DDR gab es eine starke Bastlerkultur. Das wurde von offizieller Seite durchaus unterstützt. Zum einen, weil es weniger Luxusgüter als in den westlichen Industrienationen gab und basteln (und löten) bedeutete, dass sich die Bürger:innen so ihre eigenen Computer zusammenbauen konnten. Das ist m.E. dann auch Hackerkultur, weil sich diese Bastler mit dem wenigen, was ihnen zur Verfügung stand, das schafften, was sie brauchten und haben wollten. Zum anderen wurde dieses Verhalten in der DDR gefördert, weil damit auch einherging, dass die Nutzer:innen den Aufbau und die Funktionsweise von Rechentechnik besser verstanden. Dieses Wissen konnte wiederum gut für die eigene Volkswirtschaft genutzt werden.
Den Eindruck hatte ich übrigens auch. Ich habe als Kind viele Computerbücher aus DDR-Zeiten gelesen, weil mein erster Computer noch lange nach der Wende ein KC85 war. Ich fand diese Bücher meist sehr einladend und sehr gut verständlich geschrieben. Aber natürlich war es immer im Sinne der DDR-Politik, und die Bedeutung der "Rechentechnik" für die "Volkswirtschaft" wurde betont, manchmal auch in Abgrenzung zum Kapitalismus. Hast du dir auch DDR-Computerliteratur aus der damaligen Zeit angeschaut?
Ja, natürlich. Das waren auch wichtige Quellen für mich, nicht zuletzt um zu sehen, wogegen sich Hacker abgrenzten bzw. welche Auffassung von Computern und ihrer Nutzung sie zu erweitern versuchten. Was aber im Vergleich auch herauskommt ist, dass natürlich auch die kapitalistischen Länder die Bedeutung der Computer und Rechentechnik in ihrem wirtschaftlichen und politischen System bewertet und beworben haben. Da ging es etwa um Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildung der Jugend für eine sichere Zukunft, in der die Computertechnik eine wichtige Rolle eingeräumt wurde.
Gab es in der DDR trotzdem Computernutzung, die misstrauisch betrachtet wurde?
Problematisch wurde es immer dann, wenn dieses Basteln sich mit oppositionellem Aktivismus verband oder sich schlichtweg private Gemeinschaften um das Hobby Computer bildeten, deren Aktivitäten die Stasi nicht überblicken konnte.
Gab es auch echte Computerkriminalität im Osten, oder war das durch das diktatorische Regime unterbunden bzw. durch das Wirtschaftssystem ohnehin nicht reizvoll?
Da ist immer die Frage, was man mit Computerkriminalität meint. Gerade in der DDR war die freie Meinungsäußerung ja bereits kriminell, wenn sie sich gegen den Staat, Autoritäten oder den Sozialismus wandte. Dementsprechend gab es bei der Distribution oppositioneller Informationen auch Kriminalität in Verbindung mit der Computernutzung. Es gab ferner einzelne Fälle, in der illegal Computermodems genutzt wurden, also DDR-Bürger:innen online gingen. Und da auch Institutionen und Behörden in der DDR auf Computer zurückgriffen, war die DDR betroffen von Computerviren - also einem internationalen Phänomen der Computerkriminalität. Darüber hinaus waren Computer oder Disketten aus dem Westen ein begehrtes Schmuggelgut und fanden auf dem Schwarzmarkt großen Absatz.
Ein möglicherweise ostalgisches Klischee besagt, dass in der DDR mehr Frauen berufstätig waren, und auch leichter in technischen Berufen arbeiten konnten als in der BRD. Oder dominierten auch in der DDR Männer die Computertechnik und die 'Hacker'- oder 'Bastler'-Szene?
Leider ja. Das hat mich bei meiner Forschung sehr überrascht, denn gerade wegen der zahlreichen berufstätigen Frauen – auch in den technischeren Berufen - ging ich davon aus, dass ich hier mehr Mädchen und Frauen unter den Hackern finde. Aber auch in der DDR wirkten Rollenzuschreibungen von "klassisch männlich und weiblich". Das wirkte sich bereits darauf aus, dass Mädchen meist weniger Freizeit zur Verfügung stand als Jungen, weil diese etwa mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen mussten.
Aber besonders beeinflussten diese Zuschreibungen die Wahl der Hobbys: Technik wurde auch in der DDR eher als ungeeignete Freizeitbeschäftigung für Mädchen angesehen. Das schlug sich dementsprechend in den Hackerkulturen nieder. Dazu kam der Umstand, dass sich die von Männern dominierten Subkulturen allgemein durch exkludierende Umgangsformen und Praktiken auszeichneten.
Also doch ähnlich wie in Westdeutschland, was dann wohl zeigt, wie wirkungsmächtig patriarchalische Strukturen in europäischen Staaten unabhängig vom offiziell propagierten Wirtschaftssystem sind, oder?
Absolut, auch wenn es da natürlich graduelle Abstufungen gibt.
Wie hat sich die Situation in der BRD und dann später im vereinigten Deutschland entwickelt? Du hast schon den CCC erwähnt und dessen Aktivist:innen. Gibt es da prägnante, über die engere Szene hinaus wirkende Ereignisse, die wichtig waren für eine positive Entwicklung des Hackerbegriffs und die Anerkennung von nicht-männlichen Leistungen in der Computertechnik?
Der Hackerbegriff war in der BRD bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre durchaus schon positiv konnotiert. Das lag vor allem an so Gruppen wie dem CCC. Durch verschiedene Hacks Ende der 80er Jahre bröckelte dann das Bild der Hacker als "die Guten" zunehmend. Ein Hack der in den Servern der NASA stattfand und die Spionagetätigkeiten einer Gruppe um den Hacker Karl Koch sowie zunehmende Computerkriminalität wandelten nicht nur das Bild der Hacker in der Öffentlichkeit, sondern stellte auch das Gefüge im CCC selbst vor Herausforderungen. Diese positive Konnotation aufrecht zu erhalten, ist bis heute ein ständiges Verhandeln.
Es ist schwierig, da einzelne Ereignisse zu nenne, die nicht-männliche Leistungen fokussieren und hier daran Entwicklungen auszumachen. Meines Erachtens waren die Haecksen ein wichtiger Faktor, damit sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Szene das Bewusstsein gestärkt wurde, dass z.B. Frauen auch ganz aktiv in den Prozess der Computerisierung integriert sein wollten und dies auch waren.
Ich weiß, dass immer noch mehr männlich als weiblich gelesene Personen Informatik und verwandte Fächer studieren. Was kann man aus der Vergangenheit / der historischen Forschung lernen, um eine stärkere Angleichung zu schaffen?
Als Historikerin würde ich natürlich sagen, dass eine Beschäftigung mit Geschichte, die explizit nach diesen Akteuren sucht, uns aufzeigen kann, dass diese immer auch schon Teil der Computergeschichte waren. Das bringt uns weg von wirkmächtigen Narrativen, die daraus resultieren, dass oftmals zu sehr auf die großen Männer fokussiert wurde. Und außerdem kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit uns in Erinnerung rufen, dass diese Zuschreibungen von männlicher oder nicht-männlicher Techniknutzung gemacht wurden. Und natürlich auch wie und von wem sie wann geschaffen wurde. So können wir diese Zuschreibungen hinterfragen und so ebenfalls weibliche oder nicht-binäre Vorbilder wählen.
Haben sich aus deinem Buch Folgeprojekte ergeben, oder machst du jetzt etwas anderes?
Privat arbeite ich derzeit mit ein paar Leuten aus dem CCC-Umfeld daran, ein Buch mit Geschichten aus dem Club und aus der Hackergeschichte allgemein herauszugeben. Da gab es in den 1980er Jahren zwei Bücher, die sogenannten Hackerbibeln, und wir machen, nachdem über 30 Jahre keine neue mehr erschienen ist, eine dritte Hack:bibel, die auch bewusst einen genderneutralen Titel hat.
Aber ich habe auch wissenschaftlich noch das ein oder andere auf meiner Interessenliste zu den Hackern und der Computergeschichte, denen ich gerne noch nachgehen würde.
Wenn ich zum Schluss das noch fragen darf: Seit letztem Jahr wird auf die oft prekäre Situation von Post-Docs unter den Hashtags #IchBinHanna und #IchBinReyhan aufmerksam gemacht. Jetzt bist du auch Post-Doc. Wie ist die Situation da für dich?
Es ist ein ständiges Hin und Her. Irgendwie geht es schon immer weiter für mich - und glücklicher Weise auch mit gut bezahlten, interessanten Stellen, bei denen ich mich vor allem meiner Forschung widmen kann. Im Vergleich zu anderen geht es mir da noch gut. Aber etwas Langfristiges hatte ich in den letzten Jahren nicht und mein Lebenslauf ist mittlerweile auch von mehreren Phasen geprägt, in denen ich keine Anstellung hatte. Es sind immer recht kurze Verträge oder Stipendien in verschiedenen Städten und ob und wie es nach dem Sommer bei mir weitergeht, weiß ich gerade nicht.
Ich drücke dir die Daumen! Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast!
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