Medienkritik
Harald Schmidt fehlt
26.06.2022
Kürzlich las ich das schon vor einigen Jahren erschienene Buch "Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre, der auch einmal für kurze Zeit als Autor bei der "Harald Schmidt Show" arbeitete. Ich habe diese Show geliebt, keine Folge verpasst. Sie hat mich in meinen Jahren des Erwachsenwerdens begleitet und auch mit dazu beigetragen, meine politische Haltung zu schärfen und zu stabilisieren. Nicht jede Folge war gut, aber dafür gab es dann Folgen, die in ihrer künstlerischen Anarchie absoluten Seltenheitswert in der Medienlandschaft hatten. Zum Beispiel hat Harald Schmidt einmal eine ganze Show lang in französischer Sprache moderiert oder nach dem 11. September 2001 mit der Show 14 Tage pausiert.
Während der letzten Jahre vermisse ich diese Show immer mehr - Schmidt durfte alles und bildete einen ironisch-intellektuellen Gegenpol zur scheinbar politisch-korrekten akzeptierten Standardmeinung. Keine Satiresendung im deutschen Fernsehen füllt diese Lücke aus und kommt an das intellektuelle Niveau von Schmidt heran. Die "heute Show" verflacht immer mehr und die anderen Satire-Sendungen verarbeiten in biederer, humoristischer Form die aktuellen Nachrichten in so einer vorhersehbaren Weise, dass es kaum noch zu ertragen ist.
Schmidt kommentierte vor allem in den ersten Jahren der Show das Weltgeschehen auf so exzellente Art und Weise, dass die Feuilletons der großen Tageszeitungen regelmäßig darüber berichteten und die Sendung damit eine große gesellschaftliche Relevanz darstellte. Harald Schmidt liebte es, vor allem das bigotte Bildungsbürgertum bei Themen wie Rassismus, Ossi-Feindlichkeit und pervertierter Kapitalismuslogik immer wieder zu entlarven, wie bei einer seiner berühmten Inszenierungen mit Playmobilfiguren: "Wer kommt auf die Arche?" (2009)1
Der Roman "Panikherz" von Stuckrad-Barre hat ein paar dieser Leerstellen bei mir wieder gefüllt, wenn er das Verhalten der scheinheiligen bürgerlichen Mittelschicht beobachtet, immer auf der Suche "nach performativen Widersprüchen":
"Wer fragt, "Hab ich denn deine Kontaktdaten?", hat einen Scheißjob, beendet Mails mit Lokalwetterschilderungen und deren durch Emoticons tautologisierter Auswirkung auf die eigene Verfasstheit, frierende Grüße aus dem winterlichen München oder verregneten Gruß aus dem grauen Hamburg […]
Wer sehr oft das Wort "definitiv" benutzt, bittet Besuch, die Schuhe auszuziehen, und beantwortet Rundmails patzig damit, dass Rundmails nerven – was er an alle schickt."
Es sind diese kleinen ironischen Kommentierungen, die auch Harald Schmidt so perfekt beherrschte und die heute einer Oberlehrermentalität und einer oberflächlichen Schwarz-Weiß-Kommunikation in den Medien gewichen sind. Selbst die Comedians sind ernsthaft geworden - keiner strahlt mehr eine arrogante Souveränität aus - sie ist einer Angst vor dem nächsten Shitstorm gewichen. Dabei geht es gar nicht darum, absichtlich politisch inkorrekt zu sein, sondern sich einfach aus der Medienblase herauszulösen und einen Beobachter:in-Standpunkt einzunehmen, aus dessen Perspektive man die Welt betrachtet, ohne Teil von ihr zu sein. Es ist natürlich existenzialistisch gesehen gar nicht möglich, einen objektiven Punkt außerhalb der Medienwelt einzunehmen - vor allem nicht, seitdem die digitalen Medien quasi realitätsbestimmend geworden sind. Aber es ist wichtig, es immer wieder zu versuchen.
Heutzutage funktioniert Satire im Grunde immer nur nach dem gleichen Schema: Wir zeigen einen Zeitungs- oder Fernsehausschnitt, einen Social-Media-Post oder ein YouTube-Video und kommentieren diese - das Ergebnis ist selbstreferentielle Comedy ohne wirkliche Kreativität und Erkenntniswert. Stattdessen kommentieren vor allem Markus Lanz und Sandra Maischberger zusammen mit den immer gleichen Politiker:innen, Expert:innen und Journalist:innen das aktuelle Zeitgeschehen. Diese Talkrunden soll es geben und sind auch wichtig. Aber es gibt keine sichtbaren Korrektive mehr zu diesen Formaten - es gibt sie natürlich noch in den Untiefen der digitalen Welt und in anderen kulturellen Nischen, aber nicht mehr offensichtlich im linearen Fernsehprogramm, das doch immer noch den größten Teil der Bevölkerung erreicht und damit eine große Wirkung erzeugen kann.
Manchmal wünschte ich mir, dass irgendjemand (wie der Programmierer im Film "Matrix") einen Reset-Knopf drückt und den ganzen nichtssagenden Social-Media-Füllstoff der letzten 10 Jahre löscht, um endlich einmal wieder kreatives und innovatives Denken zu starten. Ich habe das Gefühl, als befänden wir uns momentan auf einem schwankenden Planeten, der aus der Balance geraten ist und keiner so richtig weiß, wohin es gehen soll und was die große Vision für das Zusammenleben der Bevölkerung auf unserem Planeten ist.
Technologische und wissenschaftliche Fortschritte gibt es - aber um den Klimawandel zu stoppen, gehen die Entwicklungen nicht schnell genug voran. Zur Lösung des Konflikts in der Ukraine fallen uns als Weltgemeinschaft nur Waffen und Konfrontation ein. Während der Corona-Pandemie war uns noch der Schutz jedes einzelnen Menschenlebens wichtig. Ständig sprachen wir darüber, die vulnerablen Gruppen zu schützen und Rücksicht aufeinander zu nehmen - was für ein großer ethischer und moralischer Fortschritt in unserem zwischenmenschlichen Miteinander dieses neue Denken sei, wurde betont. Und jetzt heißt es von einigen Expert:innen aus der Politikwissenschaft, dass wir viel zu egozentrisch denken und uns unser eigenes Leben zu viel Wert ist. Wir müssten verstehen, so einige der Journalist:innen und Wissenschaftler:innen, dass es bei dem Ukraine-Krieg um mehr gehe als nur um Menschenleben, nämlich um das Große Ganze, die westliche, kapitalistisch freiheitlich geprägte Demokratie.
Was ist das nur für ein erschreckend voraufklärerisches und rückschrittliches Denken: Wenn wir das Leben eines einzelnen Individuums nicht wertschätzen, dann werden wir nie eine friedliche, auf Kooperation beruhende Welt haben. Aber wahrscheinlich wollen das viele auch gar nicht - wäre viel zu langweilig. Und wer bestimmt überhaupt, was das beste Große und Ganze ist? "Der Mensch ist ein einziger Widerspruch", wie es Thomas Mann einmal sehr treffend formulierte. Und diese Widersprüche konnte Harald Schmidt auf so lässige, ironische und amüsante Weise gnadenlos offenlegen.
Externe Links
1 YouTube-Video zu Harald Schmidts "Wer kommt auf die Arche?"-Playmobil-Inszenierung [Achtung: Dieser Link führt zum Videportal YouTube. Das Portal gehört zu Google und ist den USA gehostet. Dadurch wird beim Besuch der verlinkten Seite u.a. Ihre IP-Adresse in die USA übertragen. Nur auf den Link klicken, wenn Sie mit so einer Übertragung einverstanden sind.] / Zurück zum Artikel
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