Buch-Rezension
Steffen Martus und Carlos Spoerhase: "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften"
27.09.2022
Ursprünglich habe ich 2001 bis 2007 mal Germanistik und Geschichte studiert. Da ich aber meine Miete bezahlen musste und keine Lust hatte, umzuziehen, fing ich 2008 in einem interdisziplinären Projekt in der Informatik an. Als ich das damals einer Linguistikprofessorin bei einem kurzen Smalltalk auf der Straße erzählte, sagte sie: "Sehr schön! Zeigen Sie denen mal, dass wir auch nützliche Arbeit machen!"
Ich blieb sieben Jahre in der Informatik, bis ich 2015 nach erfolgreicher Verteidigung meiner Dissertation in Kommunikationswissenschaft endgültig das Unileben hinter mir ließ (das Hashtag #IchBinHanna gab es damals noch nicht, aber "Wissenschaftszeitvertragsgesetz" ist ein fast ebenso schönes Stichwort). Der Gedanke, zu zeigen, dass 'wir' nützlich sind, begleitet mich bis heute. Aber wer sind 'wir' eigentlich (im Unterschied zu 'denen' und noch 'anderen')? Gehörte ich in meinen Jahren unter Informatiker:innen noch zu diesem 'wir'? Bin ich als nicht mehr an der Uni arbeitende Person immer noch 'wir'? Und vor allem: Was tun 'richtige' Geisteswissenschaftlicher eigentlich den ganzen Tag? Darauf geben Steffen Martus und Carlos Spoerhase in ihrem Buch "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften" eine umfassende Antwort (Suhrkamp 2022; 30 EUR; 658 Seiten).
Arbeit in Gesellschaft
Dazu ziehen die Autoren zwei Literaturwissenschaftler heran, die stellvertretend für zwei Weisen geisteswissenschaftlichen Lebens stehen. Zum einen ist das Friedrich Sengle (1909-1994), der zwischen 1971 und 1980 eine monumentale dreibändige Studie über die Literatur der Biedermeierzeit vorgelegt hat. Zum anderen ist das Peter Szondi (1929-1971), der eher in kürzeren Formen publiziert hat. Martus und Spoerhase werten eine Vielzahl Materialien aus, um die Arbeits- und Kommunikationsweisen dieser Wissenschaftler zu rekonstruieren.
"Die große Monographie" als Ideal und als sichtbarer Nachweis geisteswissenschaftlicher Arbeit steht dabei immer wieder im Zentrum. Deutlich wird aber, dass etwa Sengles Hauptwerk überhaupt nicht möglich gewesen wäre, wenn Sengle nicht in ein umfassendes soziales Netzwerk zwischen Hochschule und Verlag eingebunden gewesen wäre. Dieses Netzwerk wurde einerseits für die eigene Arbeit am Werk fruchtbar gemacht, etwa in Formen von Zuarbeiten durch Hilfskräfte, Betreuung thematisch passender Doktorarbeiten, Hinweise in Seminardiskussionen, Rückmeldungen vom Verlag und nicht zu vergessen die Unterstützung der noch lange nach Sengles Eremetierung treuen Sekretärin.
Andererseits verlangte die Eingebundenheit in dieses Netzwerk auch andere Formen und Bereiche der Arbeit, worunter auch die Mitarbeiter:innen des Forschers 'leiden' mussten. So zitieren Martus und Spoerhase etwa eine Meldung der Assistenten der Germanistik der Freien Universität Berlin, wo Peter Szondi seit 1965 als Professor beschäftigt war:
"Die Mitarbeiter im 'Mittelbau' wirken 'mit bei der Vorbereitung von Haupt- und Oberseminaren […] übernehmen weitgehend Beratung, Korrektur, Besprechung und Bewertung von Seminararbeiten und -klausuren' […] 'Dem Oberassistenten obliegt die Verwaltung und Organisation des Etats, die Koordinierung sämtlicher Lehrveranstaltungen […] überhaupt die gesamte technische Organisation des Seminars' […] Die gesamte informelle Organisation entspreche nicht den gesetzlichen Vorgaben." (S. 317f.)
Abhängigkeitsbeziehungen
Die Befassung mit organisatorischen Tätigkeiten war für die Mitarbeiter:innen insofern ein Problem, als sie selbst ja eigenständige Forscher:innen waren:
"'Die erhöhte Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Assistenten sind institutionell und im Bewusstsein der Beteiligten nicht hinreichend berücksichtigt." (S. 318)
Und diesen Zustand zu ändern, war kaum möglich:
"Gegen diesen Zustand […] lasse sich aufgrund der institutionalisierten Abhängigkeitsbeziehungen aber kaum vorgehen." (S. 318)
Es geht hier um die 1960er Jahre, aber es klingt seltsam vertraut. Schon damals wurde versucht, "das Verhältnis von akademischer Selbstqualifikation (Habilitation) und Dienstleistungen (Mitarbeit in Lehre, Beratung, Prüfung, Verwaltung) […] zugunsten der Selbstqualifikation neu aus[zu]tarier[en], weil die meisten Assistentinnen und Assistenten aufgrund der Mehrfachbelastungen nicht zum Forschen kommen." (S. 317)
Zwar gibt es heute keine verbeamteten Assistent:innen mehr. Der "Mittelbau" im klassischen Sinne ist tot; wissenschaftliche Mitarbeiter:innen sind Angestellte, oft in Kürzest-Befristungen. Doch umso mehr wird das Nicht-zum-Forschen-kommen jede:r nachvollziehen können, die:der heute oder in den letzten Jahren schon einmal an einem Lehrstuhl oder in einem Drittmittelprojekt beschäftigt war. Eigentlich soll es um die Dissertation, die Habilitation oder das konkrete Forschungsvorhaben des Projekts gehen, aber die sonstige Arbeit muss ja trotzdem gemacht werden, und so sind es heute Doktorand:innen und Post-docs, die versuchen, den Laden am Laufen zu halten, während die eigentliche Arbeit zu kurz kommt.
Spoerhase und Martus zeigen, dass diese 'eigentliche' Arbeit, eben die Geistesarbeit, schon damals vor allem den verbeamteten Professoren möglich war, die den Luxus hatten, unerwünschte Arbeiten auf von ihnen abhängige Mitarbeiter:innen abzuwälzen - wenn auch viele Professoren sich natürlich um Verbesserung der Bedingungen für die Mitarbeiter:innen bemühten (so auch Szondi).
Endlich raus in Soziale?
Raus aus den Alltagsproblemen geht es, wenn man sich auf Konferenzen begibt - jedenfalls ist das die Idee. Die große Fachtagung, die endlich einmal Kommunikation und Austausch mit anderen Fachkolleg:innen erlaubt, aber schon zu Szondis Zeiten durchaus als Anstrengung empfunden wurde. Spoerhase und Martus zitieren dazu den Germanisten Richard Alewyn (1902-1979):
"Wir alle leiden im grauen (oder roten) Alltag des akademischen Betriebs unter dem Schwinden des wissenschaftlichen Gesprächs. Verbandstagungen sind - unvermeidlich - zu Massenveranstaltungen ausgewachsen. Persönliche Begegnungen sind selten und zufällig. Infolgedessen sind Kommunikation und Diskussion bis auf schäbige Reste verkümmert." (S. 388)
Auch dies, wiederum, ein Urteil aus den 1960ern, obwohl es auch gut zu digitalisierungskritischen Diskursen passen würde, die die häufige Folgenlosigkeit ausschließlich digitaler Kontake beklagen (wie etwa Über/Strom-Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin Uta Buttkewitz in ihrem Buch). Spoerhase und Martus betonen, dass digitale Organisationsformen im Wissenschaftsbetrieb durchaus Vorteile haben. Gerade auch die Einbindung wissenschaftlichen Nachwuchses in Tagungen würde durch digitale Infrastruktur "gewiss begünstigt".
Es ist heute ja in der Tat nicht mehr 'der' altehrwürdige 'Ordinarius', der zur großen, gerne auch teuren, Jahrestagung seines Fachverbandes anreist, sondern unzählige junge und oft auch sehr diverse Forscher:innen finden sich unkompliziert in Formaten zusammen, die zwar traditionelle Formen aufgreifen, aber oft zwangloser sind und dadurch auch durchlässiger, weil es weniger um Habitus und Status geht, mehr um die Sache. Der Home-Office-Zwang während der Corona-Lockdowns hat dies noch bestärkt.
Ein umfassendes Gemälde
Man kann "Geistesarbeit" auf zwei Weisen lesen. Wer sich für eine ganz bestimmte Praktik interessiert (etwa das Publizieren, das Theoretisieren, das Lesen oder das Kooperieren), kann direkt in das entsprechende Kapitel einsteigen. Allerdings wird das wirklich umfassende Bild, das "Geistesarbeit" von seinem Thema malt, erst im Zusammenspiel der Kapitel deutlich. Nicht ohne Grund sind die Kapitel mit häufigen Querverweisen versehen.
Schaut man nur einzeln auf die Kapitel, scheint noch das Ideal des fleißigen, damals mehrheitlich übrigens männlichen, Geistesarbeiters auf, der stundenlang am Schreibtisch sitzt, Aufsätze liest, und sich mitunter in Details verliert, bis hin zu Diskussionen mit Verlagen, in denen es um die Schriftart auf dem Buchumschlag geht. Aber genau dieses Ideal, das wird deutlich, gab es nie. Immer schon war auch 'der Ordinarius' nie ohne seine Eingebundenheit denkbar bzw. hätte ohne diese nicht arbeiten können.
Das ist heute immer noch so, umso schlimmer sind aber die unter #IchBinHanna und #IchBinReyhan kritisierten Zustände. Ob diese Kritik zu wirklichen Änderungen des Arbeitens auch in den Geisteswissenschaften führen wird, lässt sich noch nicht absehen, aber die Autoren betten ihre Arbeit in Einleitung und Nachwort durchaus in diese Diskussion ein. Auch das langfristige Verhältnis zu den Digital Humanities, die nicht bloß ursprünglich geisteswissenschaftliche Fragen aus eher technischer Sicht bearbeitet, sondern auch neue Fragen generiert, die traditionelle Geisteswissenschaft nicht in den Blick und Griff bekommen kann, ist noch unklar.
Am Ende des Buches stellen Spoerhase und Martus einige Fragen in den Raum, die auf mögliche Veränderungen verweisen - auch, was die Karrierewege junger Wissenschaftler:innen angeht, wenn diese vielleicht nicht "aufgrund familiärer Privilegien ohnehin schon instruiert sind und alles sofort 'richtig' machen" (S. 486) - oder einfacher ausgedrückt: einfach nicht diesen 'typisch' geisteswissenschaftlichen Habitus, diesen 'Stallgeruch' haben, der von vornherein weltgewandt, doktoral, professoral daherkommt, weil man vielleicht aus einer Arbeiterfamilie stammt und das alles erstmal lernen muss (und übrigens zumindest teilweise vielleicht gar nicht lernen will, weil manche Praxen durchaus auch weltfremd, arrogant oder künstlich wirken können).
Dieses 'Machen' im Alltag und in Arbeit steht im Zentrum einer jeden Praxeologie; diese konkrete Praxeologie betrifft wirklich klassische Geisteswissenschaften. Die Autoren ziehen aus ihren Untersuchungen glücklicherweise keine Diagnose, wie 'es' angesichts von Krisendiagnosen ("Krise der Geisteswissenschaften") 'richtig' oder besser 'gemacht' werden müsste. Sie wollen erstmal ein Verständnis dafür schaffen, wie "Geistesarbeit" bisher funktioniert und das gelingt ihnen ganz hervorragend. "Geistesarbeit" ist ein Buch nicht nur für Geisteswissenschaftler:innen oder Akteure in der Hochschulpolitik, sondern aufgrund der vielen ganz greifbaren Beispiele für alle, die sich fragen, was Geistenswissenschaftler:innen eigentlich den ganzen Tag machen.
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